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Die Ausstellung "West-Berlin: Eine Insel auf der Suche nach Festland" im Stadtmuseum. Das Stadtleben rückt derzeit auch in den Fokus von Wissenschaftlern.

© dpa

Stadtleben-Forschung: Diese Dinge waren typisch für West-Berlin

Ofenheizung, Durchsteckschlüssel und Dosen aus der Senatsreserve: Ein Potsdamer Historiker hat für uns herausgearbeitet, wie die Alltagskultur das Leben in West-Berlin so besonders machte. Ein Gastbeitrag.

Ein Samstagabend in West-Berlin: Zunächst die Wohnungssuche in den Sonntagsausgaben der Abonnementsblätter – meistens erfolglos. Danach wird mit dem Noteinkauf aus Ullrichs Supermarkt am Bahnhof Zoo in der Hand das Oberdeck des 19er-Busses nach Kreuzberg erklommen, sicherheitshalber in der Jackentasche nach dem Durchsteckschlüssel für die Haustür getastet, um schließlich in die Ofenheizungswohnung im Hinterhaus zurückzukehren.

Die Situation mag klischeehaft verdichtet sein. Dennoch erscheint sie unverwechselbar und bildet einen Ausschnitt aus West-Berlin vor 1989/90. Was das Besondere West-Berlins gewesen ist, wird immer wieder diskutiert: Was war das Charakteristische der Stadt und der höchst unterschiedlichen Lebensweisen in ihr?

Bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden hat die materielle Kultur der Stadt. Ob U-Bahn-Fahrten oder Fußwege, Industriegebiete oder die Mauer, Stadtviertel, Wohnungen und Konsumgegenstände: Sie alle erzeugten zusammen eine „mentale Karte“ der Stadt. Heute, im Erinnerungsmodus, werden solche Orte und Objekte zusätzlich symbolisch aufgeladen – als „typisch West-Berlin“ werden die ehemals beiläufigen Begleiter des Stadtlebens bedeutungsgeladen.

Weltstadtambiente mit Kirchenruine und Ku'damm

Seit der Teilung entwickelte sich das Zentrum aus der früheren Nebencity des Berliner Westens rund um den Kurfürstendamm. Mit seinen Geschäften und Kinos war er das Aushängeschild für Touristen und Bezugspunkt für Einheimische. Wesentliche andere Elemente eines Zentrums fehlten jedoch. Die politische Zentrale befand sich in Schöneberg. Die überregional bedeutsamen Kultureinrichtungen waren über die Stadt verstreut.

Die Straßen einer Stadt spiegeln soziale Prozesse wider. Kurfürstendamm und Gedächtniskirche gehören zu den symbolisch aufgeladenen Orten West-Berlins.
Die Straßen einer Stadt spiegeln soziale Prozesse wider. Kurfürstendamm und Gedächtniskirche gehören zu den symbolisch aufgeladenen Orten West-Berlins.

© IMAGO

In der eher gleichförmigen Stadtlandschaft aus den bis 1914 entstandenen, meist fünfstöckigen Mietshäusern fehlten auch zunächst richtige „Landmarks“ – von einigen Ausnahmen abgesehen. Hierzu gehören die Solitäre des Wiederaufbaus. Dies war zuallererst die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die kriegszerstörte Kirche wurde nach heftigen Diskussionen teilweise erhalten und durch einen Neubau ergänzt (1959–1961). Damit entstand am Beginn des ebenfalls symbolisch aufgeladenen Kurfürstendamms ein Ensemble, das die „wehrlose Ruine“ Berlin mit Modernität und weltstädtischem Ambiente verband.

Hansaviertel versus Stalinallee

Jenseits der symbolischen Orte entwickelte sich West-Berlin im Zeichen des pragmatischen Wiederaufbaus der durch die Bombardierung zerstörten Viertel. Die Zeilenbauten der 1950er und frühen 1960er Jahre orientierten sich am Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt: Abstandsgrün statt Blockrandbebauung, Funktionsteilung statt Funktionsmischung. So wurde das Hansaviertel errichtet, das programmatisch als „demokratisches“ Gegenbild zum Ost-Berliner Aufbausymbol Stalinallee wirkte.

Das so entstehende „moderne“ West-Berlin wies aber auch Kanten auf: unzweifelhaft die Grenzanlagen, ab 1961 die Mauer. Zu den Kanten innerhalb der Stadt gehörten die neuen Straßenachsen, mittels derer West-Berlin zu einer autogerechten Stadt werden sollte. Die Stadtautobahn, seit 1956 als erste innerstädtische Autobahn der Bundesrepublik erbaut, ist das bekannteste Beispiel. Viel massiver griffen die Planer in der Innenstadt ein, wo die Lietzenburger Straße und die Straße An der Urania breite Schneisen in die vormaligen Gründerzeitviertel schlugen. Die rauschhafte Ausgestaltung der Autoschneisen als breite, geschwungene Adern imaginierte eine Moderne, die aus heutiger Sicht vor allem durch ihre Weite und Leere auffällt.

Patchwork prägte die Stadt

Der Altbaubestand dagegen blieb weitgehend unsaniert, bis auf die beliebte und finanziell geförderte „Modernisierung“ der kriegsbeschädigten Altbaufassaden durch das Abschlagen des Stucks. Auf Fotografien macht West-Berlin den Eindruck eines geflickten Konglomerats alter und neuer Gebäude, kopfsteingepflasterter oder geschwungen-moderner Straßen, unterschiedlichster Beleuchtungen, provisorischer Architekturen wie Kioske. Dieser Patchworkcharakter prägte das Erscheinungsbild der Stadt – und prägt es vielerorts bis heute.

Eine zweite Schicht der materiellen Kultur bildet die einzelne Straße – mit ihren Häusern, Baulücken, teils durch Bretterzäune abgedeckt, teils mit Wurstbuden bestückt oder als Parkplatz genutzt. An- und Verkaufläden, Kohlehandlungen, Bäckereien und Kneipen scheinen das Alltagsgerüst der Stadt in den 1950er Jahren zu bilden.

Alternative Konsumorte im Studentenmilieu

Die Straße als Lebensumfeld spiegelt nicht nur ökonomische Prozesse wider, sondern auch soziale Veränderungen. Aus Kinos wurden später Supermärkte, Kohle- und Kartoffelhandlungen verschwanden sukzessive. Besonders deutlich wird dies seit den 1970er Jahren, als die Stadt der Wiederaufbaujahre durch ein Netz alternativer Konsumorte ergänzt wurde, vor allem in den studentischen Milieus in Charlottenburg, Schöneberg und Wilmersdorf. Kneipen und Buchläden, „Boutiquen“, später Food-Koops und Cafés, Tischlereikollektive und Druckereien bildeten eine alternative Geschäftsszene, die alles, nur nicht kommerziell sein durfte. Auch durch abrissbedingte Umzüge in Neubaugebiete am Stadtrand sowie durch den Zuzug von Arbeitsmigranten veränderten sich viele innerstädtische Quartiere.

Hinzu kommen Spezifika West-Berlins: Grenzschilder mit der Aufschrift „Achtung! Sie verlassen jetzt West-Berlin“; fehlende Verkehrshinweisschilder auf ein Stadtzentrum („Mitte“ lag in Ost-Berlin), dafür aber Richtung Königsberg; an der Mauer endende Straßenbahnschienen noch in den 1980er Jahren (die Straßenbahn in West-Berlin wurde bis 1967 eingestellt). Dies waren hoheitliche, zumindest aber demonstrative Zeichen einer als Zustand der Ausnahme interpretierten politischen Situation – die zunehmend als Normalität eigener Art empfunden wurde.

Typisch Westberlin? Kachelofen, WG und Durchsteckschlüssel

Gibt es Typisches, was die West-Berliner Wohnung als intimen Ort individueller Gestaltung und Lebensweise betrifft? Sicher waren Möbel, Gardinen, Kühlschränke und Ecksitzbänke in der Bundesrepublik mehr oder weniger gleich. Typischer für Berlin war der brikettbetriebene Kachelofen mit seinen den Tagesrhythmus bestimmenden Betriebsnotwendigkeiten. In einer von permanenter Wohnungsknappheit geprägten Stadt zählten Umzüge zur Routine. Zu den existenziellen Fragen einer spezifisch West-Berliner Lebensweise gehörten: Vorder- oder Hinterhaus und, damit verbunden, die Alternativen hell oder dunkel. Blick auf Brandmauer oder Friedhof? Was mache ich mit dem Berliner Zimmer? Gibt es eine Innentoilette oder gar ein Bad? Finde ich ein Zimmer in einer der Wohngemeinschaften, die seit den späten 1960er Jahren in den großbürgerlichen Vorderhauswohnungen entstanden? Das Wohnen im Altbau bedeutete für die meisten Alteingesessenen den Verbleib im Überkommenen. Für Neuhinzugezogene war es, je nach Herkunft, Fluchtort vor westdeutscher Normalität oder Eintauchen in die „Ankunftsstadt“, in jedem Fall Beginn einer Chancenwanderung.

Es gleicht einem Puzzlespiel, aus den tausenden Alltagsgegenständen das Charakteristische zu finden. Die örtlichen Stadtmagazine mit ihrer transitorischen Welt der Kleinanzeigen und dem Programm durch das vorzugsweise „andere“ Berlin gehören dazu. Ganz sicher auch der Durchsteckschlüssel für den Zugang zu Altbauten. Vor der Einführung von Türöffnern mit Wechselsprechanlage brauchte man ihn, um nach 20 Uhr ins Haus zu gelangen. Gedreht und durchgesteckt, von innen weitergedreht, schloss er zugleich auf und wieder ab. Durch ihn wurden Häuser zu Festungen, deren Betreten präziser Verabredungen bedurfte.

Behelfsmäßiger Personalausweis

Jeder Berliner hatte nach dem Vier-Mächte-Statut stets seinen „behelfsmäßigen“ Personalausweis bei sich zu tragen, der in der DDR und anderen östlichen Ländern als Passersatz fungierte. Die Milch aus Westdeutschland wurde in die Kartons der Meiereizentrale umgefüllt, die „Vorzugsmilch“ aus dem stadteigenen Gut Domäne Dahlem mit etwas erhöhtem Fettgehalt kam in Flaschen. Periodisch wurden Dosen mit „Erbsen mittelfein“ oder „Rindfleisch im eigenen Saft“ aus der Senatsreserve verkauft, die nach der Blockade von 1948/49 zur Notversorgung gebildet worden war. Beliebt waren sie wegen ihres geringen Preises.

Mit all diesen Dingen waren unterschiedliche Gewohnheiten und Vorlieben einer differenzierten Stadtgesellschaft verbunden, jedoch auch Gemeinsamkeiten: Es gab ein wohl alle West-Berliner vereinendes Bewusstsein der besonderen politischen Situation ihrer Stadt und eine in vieler Hinsicht gemeinsame Lebenspraxis – trotz mancher Differenzen über deren Interpretation. Man war eben anders, wenn man gefragt wurde.

Der Autor ist Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Der Artikel basiert auf einem Text in den demnächst erscheinenden „Zeithistorischen Forschungen“, Heft 2/2014: West-Berlin, www.zeithistorische-forschungen.de, Vandenhoeck&Ruprecht.

Andreas Ludwig

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