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Stalinismus: Lautlose Vernichtung

Im Schatten des „Großen Terrors“: Das sowjetische Innenministerium ließ 1937/38 hunderttausende kleiner Leute ermorden. Diese "Massenaktion" zeigt das Deutsche Historische Institut Moskau jetzt erstmals in einer umfassenden Dokumentation.

Gebiet Kalinin, Kolchose „Pariser Kommune“, am 6. August 1937. Der Leutnant M. des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) erhält den Auftrag, den Schmied Z. zu verhaften. Der Leutnant meldet noch am selben Tag Vollzug. Es beginnt eine auf den ersten Blick unspektakuläre Untersuchung: Ein Personalfragebogen wird ausgefüllt, ein Verhör findet nicht statt.

Gleichwohl fertigt der Vorsitzende des zuständigen Dorfsowjets zu Z. unverzüglich eine „Auskunft“ im Umfang von zehn Zeilen an. Sie liest sich im Nachhinein schon wie die Anklageschrift: Z. sei kulakischer Herkunft, das heißt, er besaß vor der Zwangskollektivierung ab 1928 eine eigene Werkstatt und ein Stück Land. 1918 sei er Anführer eines konterrevolutionären Aufstands gewesen, danach „untergetaucht“. 1930 habe man ihn mit einer Extra-Steuer belegt und ihm das Wahlrecht entzogen. Zudem habe Z. als Schmied der Kolchose eine Reparatur verhindert und damit die Ernte gestört. Das Fazit des Dorfvorstehers: „Ein Mensch mit antisowjetischer Einstellung.“

Schmied Z. war einer von etwa 800 000 Sowjetbürgern, die 1937/1938 in einer „Massenaktion“ – im NKVD-Jargon auch „Kulakenoperation“ – verhaftet und etwa je zur Hälfte zum Tode oder zu Lagerhaft verurteilt wurden. Dies geschah aufgrund eines Moskauer Befehls vom 30. Juli 1937 zur Verfolgung von „Kulaken, Kriminellen und anderen antisowjetischen Elementen“. Daneben lief eine weitere Massenaktion, die „nationale Operation“ nach gleichem Muster, zwar weniger umfangreich, aber ebenfalls mit mehreren hunderttausend Opfern.

Kein einziger der im Rahmen dieser „Massenaktionen“ Verhafteten wurde im Zuge laufender Fahndungen oder akuter Gefahrenabwehr verhaftet; die Sicherheitskräfte gingen vielmehr nach Listen des NKWD vor. Die NKWD-Dienststellen erhielten dazu aus Moskau ständig ergänzte Anweisungen über die Zahl der insgesamt zu Verhaftenden und die davon zu Todes- oder Haftstrafen zu Verurteilenden. Das Schicksal des Schmieds illustriert ein Kapitel des „Großen Terrors“ der Stalinzeit, das bislang in der offiziellen Geschichtsschreibung kaum vorkam.

In den weiteren Protokollen aus der Akte des Schmieds findet sich außer der Teilnahme an einem „Kulakenaufstand“ 1918, wenn auch nur in der Rolle eines Wächters, ein weiterer belastender Tatbestand: 1926 wollte man ihm drei Monate „Spekulation“ nachgewiesen haben, er habe Fleisch bei Bauern gekauft und anschließend auf Märkten verkauft – in einer Zeit, als privater Handel noch nicht verboten war. Zur Verzögerung der Reparatur von Erntemaschinen in der Flachsernte 1931wird protokolliert: Nach einem Trinkgelage sei Z. zu betrunken gewesen, um zu arbeiten.

Zeugen, darunter ein als NKWD-Spitzel bekannter Geistlicher, bestätigten die ohnehin schwachen Vorwürfe in teilweise dürftiger Weise. Die Aussagen wirken in ihrer Einheitlichkeit wie souffliert. Klar wird jedoch: Der Verhaftete war aus verständlichen Gründen kein Freund der Sowjetmacht – und kein Musterbürger. Unter Alkoholeinfluss wurde er zum Maulhelden und schimpfte über die Sowjetmacht. Gleichwohl scheint er all die Jahre schlecht und recht als Schmied in der Kolchose gearbeitet zu haben.

In derAnklageschrift des NKWD-Leutnants vom 19. August 1937 wird sogar festgehalten, dass weder Schuldbekenntnis noch sachliche Beweismittel vorliegen. Der Verhaftete sei aber durch Zeugen „vollständig überführt“ und für „konterrevolutionäre, aufständisch-terroristische Agitation“ zu verurteilen.

Während der nächsten Wochen sitzt der Schmied ohne Kontakt zur Außenwelt im Gefängnis. Am 27. September 1937 wird sein Fall von der „Troika“ (Dreiergruppe) des Gebiets Kalinin behandelt. Dieses Sondergericht besteht aus je einem Vertreter von Partei, NKWD und Staatsanwaltschaft und bestätigt das bereits zuvor maschinenschriftlich vom Sekretär festgehaltene Urteil: „erschießen“. Zur Urteilsfindung hat ein zehnzeiliger Auszug aus der Anklageschrift einschließlich der Angaben zur Person vorgelegen.

Wie viel Zeit sich das „Gericht“ zur Urteilsfindung genommen hat, ist unbekannt. Man weiß allerdings, dass in einer Nacht häufig tausend und mehr Urteile gefällt wurden. Todesurteile wurden den Angeklagten nicht verkündet. Angehörigen wurde – auf Anfrage – mitgeteilt: „Verurteilt zu zehn Jahren Besserungsarbeitslager ohne Recht auf Briefwechsel“. Im Falle Z.s wird das Urteil am 30. September 1937 um ein Uhr morgens vollstreckt.

Ein Toter von 800 000, die in der „Kulakenaktion“ ermordet wurden oder in Lagerhaft kamen, in der die Überlebenschancen äußerst gering waren. Kein einziger von ihnen tauchte in den großen oder kleinen Schauprozessen der Jahre 1936 bis 1938 auf. Das viel publizierte Standardwerk von Robert Conquest zum „Großen Terror“ schweigt darüber, denn unser Bild ist geprägt von den Zeugnissen der Überlebenden. Conquest liefert uns ebenso wie Solschenizyns „Archipel Gulag“ oder die Erinnerungen Jewgenija Ginsburgs das Bild des „Großen Terrors“, wie es die Angehörigen der alten Bolschewiki und der neuen Eliten des Sowjetstaates wahrnahmen, Menschen also, die der Sowjetmacht in aller Regel ergeben waren und ihr mit Überzeugung bis in höchste Positionen dienten. Nur für sie trifft zu, was als allgemeingültig angenommen und von Karl Schlögel in seiner faszinierenden Reportage „Terror und Traum. Moskau 1937“ noch einmal konstatiert wird: „Die wenigsten, die verfolgt und umgebracht wurden, wussten, warum sie ausersehen waren. Die Vorwürfe waren unglaublich und fantastisch, und noch fantastischer war, dass die Beschuldigten sie wiederholten, sie in Geständnissen wiedergaben.“

Im Blick stehen damit die Bucharins der Schauprozesse. Ungesagt bleibt jedoch, dass die große Masse der Opfer 1937/38 kleine Leute waren, die selbst kaum schreiben konnten und denen in der Regel auch gar keine Gelegenheit mehr zum Schreiben gegeben wurde, die stumm und ohne Aufschrei in einer bürokratisch organisierten Aktion zur sozialen Säuberung des Landes untergingen. Das geschah geheim, völlig ohne Publizität; Menschenleben galten nichts. So wurden die von Moskau geforderten Urteile mehrfach zugunsten der Todesstrafe verschoben, weil die Lager überfüllt waren.

Im Unterschied zu den Angehörigen der Eliten wussten die Betroffenen, warum sie verfolgt wurden: Sie waren polizeibekannt als „ehemalige Kulaken“ oder deren Nachkommen, als „Stänkerer“ in den Kolchosen, als ehemalige Bürgerkriegsgegner oder Anhänger gegnerischer Parteien, als Obdachlose, als „Arbeitsscheue“, als wiederholt aufgegriffene Kleinkriminelle und Prostituierte. Das genügte. Akute Vorwürfe waren nicht nötig. Geständnisse, die bei der Verfolgung der Eliten eine so große Rolle spielten, waren ebenfalls nicht nötig. Das alles ist Spezialisten nicht mehr völlig unbekannt. Das Deutsche Historische Institut Moskau (DHI) dokumentiert jedoch erstmals in dieser Dichte den ganzen Vorgang dieser lautlosen Vernichtung.

Wie die neue „Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Bekämpfung von Versuchen zur Fälschung der Geschichte zum Schaden Russlands“ über diese Publikation urteilt, bleibt abzuwarten. Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit treibt in Russland bekanntlich manchmal seltsame „patriotische“ Blüten. Das sollte jedoch nicht übersehen lassen, dass es auch dort jene Historiker befremdet, die sich, wie das DHI, nicht politischer Agitation, sondern wissenschaftlicher Aufklärung verpflichtet fühlen. Die Wege dieser Aufklärung sind manchmal steinig, aber sie sind gangbar.

Der Autor ist Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau. Von ihm ist soeben eine umfangreiche Dokumentation zum Thema erschienen: Rolf Binner, Bernd Bonwetsch, Marc Junge: Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors. Akademie Verlag, Berlin 2009, 821 S., 39,80 €.

Bernd Bonwetsch

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