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Harrison

© Thilo Rückeis

Standardwerk: Vom Molekül zum Menschen

Die deutsche Ausgabe des Standardwerkes "Harrisons Innere Medizin" kommt aus der Charité.

„Harrisons Innere Medizin“ gibt sich dezent. Die vornehmen Grautöne des Einbands signalisieren, dass es der Inhalt ist, auf den es ankommt, nicht eine grelle Verpackung. Im Falle des „Harrison“ bestehen diese inneren Werte aus 3800 eng bedruckten Seiten.

Zwei Bände umfasst das Werk, jeder an die drei Kilogramm schwer und angereichert mit Hunderten von Abbildungen, Grafiken, Tabellen und Algorithmen, dazu kommen noch ein Registerband und eine DVD. Die 17. Auflage des amerikanischen Standardwerks ist nun in deutscher Übersetzung und Bearbeitung beim Berliner ABW-Wissenschaftsverlag erschienen. Ein Gigant in Grau, ein Werk „zum Nachschlagen und Erschlagen“, wie der Medizinkabarettist Eckart von Hirschhausen scherzt.

Der Harrison ist legendär, er gilt weltweit als „Bibel“ der inneren Medizin. Eine Bibel, die nicht als ewige Wahrheit daherkommt, sondern stets an neue Erkenntnisse angepasst wird. So finden sich in der aktuellen Auflage mehr als 40 neue Kapitel, zu Themen wie Stammzelltherapie oder Gewebezucht.

„Innere Medizin“ heißt dabei buchstäblich alles, was „innen“ im Körper vor sich geht. Nicht nur Herz, Lunge und Bauchorgane werden berücksichtigt, sondern auch Krankheiten der Nerven, Muskeln, Gelenke und Sexualorgane. An der deutschen Ausgabe haben an die 400 Experten mitgewirkt, alle unter Federführung eines Herausgebertrios der Berliner Charité: des Pathologen Manfred Dietel, des Infektionsexperten Norbert Suttorp und des Magen-Darm-Spezialisten Martin Zeitz.

Das Erfolgsgeheimnis dieses Werkes, jenseits des enzyklopädischen Anspruchs, ist eine altmodische Tugend – der Mut zum Erzählen, zum Erklären, zur Schilderung. Während deutsche Fachbücher oft keine zusammenhängenden Texte mehr darstellen, sondern aus Stichwörtern, Spiegelstrichkolonnen und Hauptworthalden bestehen, durchweht den Harrison der Atem tiefschürfender Gelehrsamkeit. Man kann sich festlesen, seinen Horizont erweitern. Kein Buch fürs Multiple-Choice-Examen, aber für ein Leben als Arzt. Anspruchsvoll, ohne arrogant zu sein.

So ist es selbstverständlich, dass im Kapitel über Magen-Darm-Leiden zunächst erklärt wird, wie ein gesunder Verdauungstrakt funktioniert. Und im Kapitel über Nierenerkrankungen wird auf mehreren Seiten erläutert, wie die Nieren den Salzhaushalt des Körpers steuern. Auch das rasch wachsende Wissen über genetische Zusammenhänge beim Entstehen von Krankheiten wird berücksichtigt. „Das Buch spannt einen Bogen vom Molekül bis zum Menschen“, sagt der Mitherausgeber Suttorp.

Die große Stärke des Harrison ist es, verständlich zu machen, wie Krankheiten entstehen und wie man ihnen auf die Spur kommt. Das mag einer der Gründe dafür sein, dass das Werk sich selbst im Internet-Zeitalter noch ungebrochener Beliebtheit erfreut. „Wir hatten mehr als 12 000 Vorbestellungen“, sagt der Verleger Axel Bedürftig. „Das ist unglaublich für so ein schwergewichtiges Werk.“ Er rechnet damit, von der Neuauflage mehr als 20 000 Exemplare zu verkaufen.

Ein guter Grund, die deutsche Ausgabe dem Original vorzuziehen, ist die Angleichung an hiesige Verhältnisse. „Wir haben keinen Anlass, zu den Amerikanern aufzuschauen“, sagt der Herausgeber Martin Zeitz. „Ein Beispiel für ein überholtes Verfahren, das in den USA immer noch empfohlen wird, ist das für die Patienten strapaziöse Darmröntgen mit Barium-Kontrastmittel.“

In der Medizintechnik hat Deutschland eine Vorreiterrolle, etwa beim Einsatz von Ultraschall, der Untersuchung des Dünndarms mit Kapseln und der Verbindung von Darmspiegelung und Mikroskopie. „Das haben wir in die USA exportiert“, sagt Christian Bojarski, Mitarbeiter von Zeitz. Ein weiterer wichtiger Unterschied: In Deutschland spielen von medizinischen Fachgesellschaften verfasste Behandlungsleitlinien eine größere Rolle – die Medizin ist stärker standardisiert.

Der größte Fortschritt in der Magen-Darm-Heilkunde war in den vergangenen Jahren das Aufkommen der „Biologicals“ – nach dem Vorbild der Natur entwickelte Eiweißmoleküle für die Behandlung von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen, Rheuma, Schuppenflechte und anderen Krankheiten. „Leider können wir bislang nicht die Ursache von chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa behandeln, sondern nur die Symptome bekämpfen“, sagt Britta Siegmund, die das Kapitel zu diesem Thema bearbeitet hat.

Schade, dass ein Thema nicht berücksichtigt wurde: der Zusammenhang von Evolution und Krankheiten. Dabei lassen sich viele Leiden vor dem Hintergrund der Entwicklung unserer Spezies besser verstehen. Selbst ein perfektes Buch kann eben noch perfekter werden.

Harrisons Innere Medizin: Deutsche Ausgabe. In Zusammenarbeit mit der Charité, 3 Bände. ABW-Wissenschaftsverlag 2008, Berlin. 3800 Seiten, 229,95 €.

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