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Wissen: Stolpersteine gegen arabischen Antisemitismus

Wie erklärt sich die Judenfeindschaft in der Migrationsgesellschaft? In Berlin suchten Experten nach praktischen Lösungen

Juden haben bei uns zu viel Einfluss, meinen fast 20 Prozent der Bundesbürger. Angela Merkel zitiert aktuelle Umfragezahlen bei einem Festbankett für 850 Repräsentanten aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, unter anderem Vertreter aller Dax-Unternehmen. Jeder Fünfte an den gedeckten Gala-Tischen denkt so etwas? Zusammengekommen war die Prominenz beim zehnjährigen Jubiläum des Jüdischen Museums Berlin. In dessen Nachbarschaft sitzt die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ). In der Jubiläumswoche des Museums haben EVZ und das Zentrum für Antisemitismusforschung mit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Kiga) nach Neukölln eingeladen, zu einer Tagung über „Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft – Bildungsraum Lebenswelt“.

Sind es die „Sozialräume“, die Underdogs mit Migrationshintergrund in den Antisemitismus treiben? Eine Fokussierung auf diese These sei verfehlt, machten Experten gleich zu Beginn der Konferenz klar, bei der sich 150 Pädagogen, Sozialarbeiter, interkulturelle Aktivisten, Wissenschaftler, Vertreter jüdischer und kirchlicher Gruppen in der Werkstatt der Kulturen dem oft tabuisierten Antisemitismus-Komplex annäherten. Der Bielefelder Konfliktforscher Dierk Borstel relativiert seine Forschungen über Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und deren Sozialräume. Man müsse beim Thema Antisemitismus wegkommen von der Randgruppenarbeit. Fremdenfeindlichkeit nehme gerade bei den Gutverdienenden zu.

Albert Scherr (Freiburg) warnt davor, mit der Sozialraum-Begründung für Judenfeindschaft deren ideologische Elemente in Sozialpsychologie aufzulösen. Umfragen-Deutungen misstraut der Erziehungssoziologe im Übrigen. Wer ankreuze, „Juden haben zu viel Einfluss“, sei vielleicht nur schlecht informiert. „Es gibt viele Menschen in Deutschland, die keine Antisemiten sein wollen, aber nicht wissen, wie das geht.“

Dass man mit Bildung und Aufklärung den Antisemitismus zum Verschwinden bringen kann, bezweifelt Monique Eckmann (Genf). Man könne seine Folgen bekämpfen. Er sei sowohl im Kontext des Rassismus zu verstehen als auch – hier widerspricht die Soziologin manchen Kollegen – „ein eigenes Phänomen“. Die Bemerkung, dass sogar Minderheiten, trotz ihrer Opfer-Erfahrung, rassistisch denken können, mag sich die jüdische Schweizerin nicht verkneifen. Andererseits funktioniere Antisemitismus nicht nur unter diskriminierten Benachteiligten und aufgrund „kultureller Codes“, sondern „ebenso stark bei Nicht-Migranten“.

Doch trotz solcher Unschärfen können idealistische Aufklärer von Praxis-Erfolgen berichten, das holt die Versammlung aus dem theoretischen Patt. In dem durch die Aktion Sühnezeichen begleiteten Projekt „Stadtteilmütter auf den Spuren der Geschichte“ bieten 100 Frauen ihren Kreuzberger und Neuköllner Nachbarinnen neben Alltagshilfe auch politische Information. Mit Sühnezeichen-Aktivisten erkunden sie die Migrationsgeschichte in den Kiezen, zu der selbstverständlich die jüdische Einwanderung sowie die Vertreibung und Ermordung gehören. Markiert sind sie etwa durch die „Stolpersteine“ vor Häusern, in denen einst Juden wohnten. Auch bei der Israelfahrt, die der arabische Kulturverein Karame 2010, gefördert durch die EVZ, mit 13 palästinensischen Berliner Vätern unternahm, war die Strategie des Antisemitismus-Abbaus eingebunden in Gemeinschaftserfahrung, vor- und nachbereitet durch eine Reihe von Seminarwochenenden.

Jüngere Männer, die vom unbekannten Land ihrer vertriebenen Eltern bislang nur träumten und ihren Kindern Frust über den Verlust eines Fantasie-Paradieses vermittelten, bekamen vor Ort bewegenden, desillusionierenden Kontakt mit ihrer Herkunft. Etwas provokanter wurden im selben Jahr bei einer zweiwöchigen Reise der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus nach Israel Fragen zur Judenfeindschaft aufgespießt. Schließlich entkräfteten reale Eindrücke im Lande die rassistischen Vorurteile der teilnehmenden 16 muslimischen Jugendlichen – und ihre Angst vor „Gehirnwäsche“. Treffen mit arabischen Israelis und mit einer Auschwitz-Überlebenden verwirrten sie, berichten die Betreuer.

Ein Deutschpalästinenser, dessen Großvater und Onkel 1967 von Israelis „mitgenommen“ worden waren, hätte sich nie vorstellen können, mit einem Juden zu reden. Ein türkischer Teenie sagt im Filmbericht: „Dieses Projekt hat mir echt die Augen geöffnet. Es ist toll hier.“ Schlimm seien die strengen Kontrollen. Heimgekehrt in den familiären Anpassungsdruck reden manche dann doch, wie früher, nur von Palästina – und nicht mehr von Israel.

Auch andere Erkenntnisse der Tagung klingen verstörend nach: Eine vernünftige tagespolitische Position zwischen judenfeindlichen Stereotypen und bedingungsloser Verteidigung israelischer Siedlungspolitik misslingt selbst klugen Bildungsbürgern. Und: Wir alle schleppen Fragmente antisemitischer Mythen mit uns herum, zumal 40 Prozent Ressentiments gegen Israel pflegen und 60 Prozent „Schlussstrich“-Advokaten sind.

Als der Berliner Politologe Yonas Endrias den präsenten Furor der Vergangenheit beschwört, werden jene schmerzhaften Emotionen wachgerufen, die eigentlich auch dem Antisemitismus-Thema innewohnen. Endrias erinnert an die Ausrottung von „80 Prozent der Hereros“ in Südwestafrika vor 106 Jahren durch die deutschen Kolonialherren und an die Missachtung der namibischen Delegation, die jüngst verschleppte Gebeine aus Berlin heimholte. Antisemitismus sollte allein im Menschenrechts-Rahmen diskutiert werden, Opfer-Hierarchie und „selektive Amnesie“ seien abzulehnen, sagte Endrias. Es sei falsch, zum Lernen nach Israel zu reisen, das müsse hier passieren. Kolonialismus sei das eigentliche Thema, sagt der geborene Eriträer.

Die Wucht des Statements erinnert an die Unesco-Konferenz von Durban, wo Israel in Vertretung des Westens an den Rassismus-Pranger gestellt wurde. Im Publikum setzt ein Mitarbeiter der Dresdner Bildungsstätte für jüdische Kultur, ebenso leidenschaftlich, sein eigenes Schlusswort: Er schaffe es nicht mehr, seine Leute zu schützen – ob er in einen anderen Sozialraum auswandern solle?

Am Ende äußert sich noch einmal leise der Kiga-Vertreter Aycan Demirel: Wo er Lehrer frage, wie sie ihre Haltungen zu Nahost reflektieren, verließen sie manchmal den Saal. Sie wollten nur Methoden lernen, wie sie andern den Antisemitismus abgewöhnen könnten. Die Welt bleibt unübersichtlich.

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