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Unter Druck. Stress ist eine subjektive Empfindung, sagt Bildungsforscher Wilfried Bos. Schulstudien zeigten da aber keine Unterschiede zwischen G8- und G9-Schülern.

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Streit um das Gymnasium G8 und G9: "Die Abkehr vom Turboabitur ist falsch"

Der Bildungsforscher Wilfried Bos hält die Abkehr vom Turboabitur für falsch - diese laufe den Erkenntnissen der Wissenschaft vollkommen zuwider. Eine Zunahme des Lernstress' etwa sei durch keine Studie bewiesen.

Herr Bos, Niedersachsen will das Turboabitur vollkommen abschaffen, auch anderswo steht zumindest die teilweise Rückkehr zum G9 zur Debatte. Gymnasien und Gesamt- oder Sekundarschulen, die das Abi in 13 Jahren anbieten, haben starken Zulauf. Wie ist die Rolle rückwärts zu erklären?

Ich hätte das noch vor einem Jahr nicht für möglich gehalten und hielt G8 für gut eingeführt und praktisch unumkehrbar. Aber die Politik muss sich daran orientieren, was Eltern und Schüler wollen. Den Erkenntnissen und Überzeugungen der allermeisten Bildungsforscher läuft die gegenwärtige Entwicklung allerdings vollkommen zuwider. Ich habe die 1998/99 veröffentlichte Studie mitgeleitet, die maßgeblich zur Verkürzung der Schulzeit geführt hat: Timss für Mathematik und Naturwissenschaften für Jugendliche kurz vor dem Abitur und im ersten Jahr der Berufsausbildung. Diese Studie zeigte, dass überall auf dem Globus Jugendliche in 12 Jahren zur Studienreife geführt werden, nur in Deutschland nicht.

Und was damals richtig war, kann heute nicht falsch sein?

Davon bin ich überzeugt. Damals zeigte sich jedenfalls, dass unsere Abiturienten im 13. Schuljahr keinesfalls bessere Leistungen zeigten als andere im 12. Schuljahr, Deutschland schnitt nur mittelmäßig ab. Dann die Erkenntnis, dass im 13. Schuljahr kaum Unterricht stattfand und damit auch kein Wissenszuwachs. Welches Recht also hatten wir, den Jugendlichen ein Jahr ihres Lebens wegzunehmen? Zumal der demografische Wandel uns dazu zwingt, die jungen Menschen früher in den Beruf zu bringen. Das alles gilt selbstverständlich bis heute.

Gegner des Turboabiturs sehen Kinder und Jugendliche unter enormem Lernstress. Ein großes Echo hatte auch die Erkenntnis einer Psychologin, die mehr Schlafstörungen und Fälle von Magersucht bei ihren jungen Patienten feststellt.

Wenn die Psychologin plötzlich zehn statt vorher fünf Fälle hatte, ist das eine subjektive Einsicht. Das gilt auch für den Stress, den Schüler zuweilen empfinden. Aber auch hier haben repräsentative Studien gezeigt, dass er durch G8 nicht schlimmer wird. Kurz nach der Tims-Studie hat die GEW in Thüringen meinen Kollegen Horst Weishaupt und mich mit einer Untersuchung dazu beauftragt. Die Frage lautete: Führt das Abitur in 12 Jahren nicht zu mehr Stress und Belastung? Bei Vergleichen von Thüringer G8-Schulen und bayerischen G9-Gymnasien konnten wir weder bei Schülern noch bei Lehrern irgendeinen Unterschied in der Belastung und im Stressempfinden feststellen.

Der Bildungsforscher Wilfried Bos.
Wilfried Bos (60) ist Professor für Bildungsforschung und Qualitätssicherung an der Technischen Universität Dortmund und leitet die Iglu- und Tims-Studien in Deutschland.

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Häufig wird auch argumentiert, beklagen würden sich vor allem die Schüler, die eigentlich nicht auf das Gymnasium gehören.

Sicher sind heute größere Anteile eines Altersjahrgangs auf dem Gymnasium als früher. Aber die Pisa-Ergebnisse sagen, dass das Gymnasium in seinen Leistungen gleichwohl konstant ist. Also sind die Kinder offensichtlich nicht überfordert, die Gymnasien haben die neue Klientel vielmehr generell gut integriert.

Ergibt sich die Überlastung nicht allein aus der Tatsache, dass es bei der verpflichtenden Zahl von 265 Lehrplanstunden bis zum Abitur blieb, indem sie ab der fünften Klasse von neun auf acht Schuljahre verteilt wurden?

Damit ist doch die ganze DDR groß geworden, das hat den Jugendlichen nicht geschadet. Sinnvoll wäre allerdings, wenn noch viel mehr Gymnasien auf Ganztagsbetrieb umstellen würden, dann werden Hausaufgaben zu Schulaufgaben, es gibt mehr Zeit zum Fördern und ab 16 Uhr haben die Schüler wirklich frei.

Zurück zum Lernstress: Auch die Lehrpläne wurden noch immer nicht konsequent entschlackt, was zum hastigen und oberflächlichen Lernen derselben Stoffmenge führen soll.

Klar, Fachdidaktiker können ohne Weiteres eine Menge Stoff nennen, den man noch herausnehmen kann – das Inselwissen, das für den Kompetenzerwerb überflüssig ist. Das tatsächlich umzusetzen, ist aber ein längerfristiger Prozess, der noch in vollem Gange ist. Der wird dadurch gefährdet, dass jetzt vielerorts zum G9 zurückgedreht wird.

Ein wiederkehrendes Argument ist, dass den Schülern am Nachmittag Zeit fehle, um in Vereinen Sport zu treiben, Musikinstrumente zu erlernen oder einfach nur frei zu spielen und zu lesen. Wischen Sie das auch vom Tisch?

Nein, wenn jemand vier Mal die Woche zum Training geht, muss er überlegen, ob er nicht lieber zur Gesamt- oder Sekundarschule wechselt, um insgesamt mehr Zeit zu haben. Hier würde aber auch das Ganztagsgymnasium helfen, wo die Vereine in die Schulen kommen.

Was weiß die Bildungsforschung konkret über die Belastung der heutigen G8-Schüler?

Die Umstellung ist nicht systematisch begleitet worden und die Kultusminister sind offenbar auch nicht willens, daran etwas zu ändern. Ein Team von Kollegen hat der KMK vorgeschlagen, Deutschland solle wieder bei Timss für Abiturienten und Auszubildende einsteigen, um auch G8 zu evaluieren – ohne Resonanz.

Was machen die Schulen in Ostdeutschland eigentlich besser beim G8, das dort nicht infrage gestellt wird?

Es gibt keine fundamentalen Unterschiede. Allenfalls hilft es, dass die Lehrer anders ausgebildet sind und G8 schon länger praktizieren. Doch auch in den alten Ländern haben sich die Lehrkräfte nach den hektischen Anfängen durchweg gut auf die verkürzte Schulzeit eingestellt. Jetzt stresst sie eher der Gedanke, alles zurückzudrehen. Das ist wieder eine enorme Belastung für die Lehrer und für die Schulen. Das, was sie jetzt halbwegs gewuppt haben, jetzt wieder zu ändern, bringt eine Riesenunruhe ins System.

- Das Gespräch führte Amory Burchard.

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