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Perspektive. Wer beeinträchtigt ist, kann Aufschub bei Prüfungen erhalten.

© dpa

Studieren mit Behinderungen: Studierende mit Handicap ohne Hilfe

Viele Studierende leiden unter Depressionen oder Legasthenie. Hilfe beanspruchen die wenigsten. Doch auch Studierende mit sichtbaren Behinderungen fühlen sich weiterhin ausgegrenzt.

„Ohne Hilfsmittel wie Braillenotizgerät, Hörgeräte und Mikroportanlage kann ich nicht studieren“, sagt Katrin Dinges. Die Literatur- und Ethnologiestudentin an der Humboldt-Uni leidet unter einer Mehrfachbehinderung mit Blindheit, Schwerhörigkeit sowie körperlichen Einschränkungen. Acht Prozent der Studierenden in Deutschland sind behindert oder haben eine chronische Krankheit. Doch das Programm „Eine Hochschule für alle“, das die Hochschulrektorenkonferenz nach der UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 verkündete, ist nach einer Studie des Deutschen Studentenwerks (DSW) noch lange nicht umgesetzt. An der jetzt veröffentlichten Umfrage des Instituts für Höhere Studien in Wien beteiligten sich 15 000 Betroffene an 160 staatlich anerkannten Hochschulen in Deutschland.

Die meisten dächten immer noch an Bewegungs-, Seh- und Hörbeeinträchtigungen, wenn von Behinderung die Rede sei, erklärt DSW-Präsident Dieter Timmermann. „Zu dieser Gruppe gehören aber nur 12 Prozent der befragten Studierenden. Die Mehrheit ist psychisch oder chronisch-somatisch erkrankt.“ Grundlage der Studie ist die Definition des Sozialgesetzbuches, nach der Menschen behindert sind, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit länger als sechs Monate von dem typischen Zustand abwichen.

Rund 45 Prozent der Befragten leiden unter Depressionen, Angst-, Ess- oder Persönlichkeitsstörung. 20 Prozent haben chronische Krankheiten wie Magen-Darm-, Stoffwechsel-, Atemwegs- und Tumorerkrankungen, Allergien, chronische Schmerzen, Hautprobleme oder Rheuma. Rund sechs Prozent haben eine Teilleistungsstörung wie die Legasthenie. Erstmals seien diese Gruppen in eine Untersuchung mit einbezogen worden, heißt es. Die meisten Fälle blieben an den Hochschulen aber unbemerkt, wenn die Studierenden nicht explizit darauf hinwiesen. Viele wollten ihre Beeinträchtigung nicht offenbaren.

Durch ihre Erkrankung fühlen sich 60 Prozent der Befragten stark im Studium beeinträchtigt. Während Mindeststandards wie stufenlose Zugänge, Aufzüge und Behinderten-WCs von den Hochschulen meist eingehalten werden, ist es für mehr als zwei Drittel der Befragten sehr schwierig, die zeitlichen und formalen Vorgaben der Studien- und Prüfungsordnungen zu erfüllen. Anwesenheitspflicht, Modulabfolge und Prüfungsdichte überfordern sie. Auch der fehlende Zugang zu barrierefreien Dokumenten, fehlende Ruhemöglichkeiten sowie schlechte Hör- und Sichtverhältnisse werden kritisiert. Dennoch hat nur ein Drittel der Befragten schon einmal einen Antrag auf Nachteilsausgleich gestellt. Um Schwierigkeiten im Studium zu kompensieren, können Betroffene beispielsweise beantragen, von der Anwesenheitspflicht befreit zu werden, ihren Studienplan individuell zu gestalten oder Prüfungsfristen zu verlängern. Viele glauben aber, keinen Anspruch zu haben oder wollen nicht bevorzugt werden. Nur ein Viertel nimmt Beratungsangebote in Anspruch.

Das DSW fordert von den Ländern, die Studien- und Prüfungsordnungen zu flexibilisieren, über den Nachteilsausgleich zu informieren und das Amt eines Behindertenbeauftragten gesetzlich zu verankern und zu finanzieren. Generell sollten Beratungsangebote an den Hochschulen ausgebaut und alle Mitarbeiter für das Thema sensibilisiert werden. Studentin Katrin Dinges sieht sich immer wieder vor großen Hürden: „Stehen Sie einmal allein vor einem Dozenten, der sich weigert, Ihnen zu helfen. Es ist jedes Mal demütigend, diskriminierend und verschlägt einem die Sprache.“

Anna Bernhardt

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