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Am 30. April 1945 ergaben sich im Konzentrationslager Dachau Wächter und SS-Leute den Truppen der US-Armee. Frühe Arbeiten Sybille Steinbachers trugen dazu bei, dass sich die Stadt Dachau der Mitverantwortung stellte.

© Alamy/Mauritius Images

Sybille Steinbacher, erste Holocaust-Professorin: Immer wieder fragen, wie es dazu kommen konnte

Hartnäckige Aufklärerin: Die Historikerin Sybille Steinbacher ist seit Kurzem die erste Holocaust-Professorin Deutschlands. Mit ihrer Arbeit hat sie sich nicht nur Freunde gemacht.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann sind die letzten Zeitzeugen gestorben. All jene, die den grauenhaftesten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte auf die eine oder andere Art miterlebt haben, werden nicht mehr aus erster Hand berichten können. Umso stärker sind die Historiker gefragt, wenn es darum geht, dass die Shoah in der Erinnerungskultur nicht zu irgendeinem Ereignis unter vielen, dass Auschwitz nicht zum Abstraktum verkommt. Weit entfernte Geschichte, die uns, die Nachgeborenen, kaum noch etwas angeht.

Sybille Steinbacher, die seit Mai dieses Jahres die erste explizite Holocaust-Professur Deutschlands an der Goethe-Universität Frankfurt am Main innehat, meint, die Gegenwartsbezogenheit müsse stets ein zentrales Anliegen der Zeitgeschichte sein. „Ich finde es wichtig, dass die zeitgeschichtliche Forschung auch eine gesellschaftliche Aufgabe übernimmt. Geschichts- und Demokratievermittlung gehören definitiv zusammen.“ Gerade vor dem Hintergrund, dass geschichtsvergessene Antisemiten anno 2017 auf Bestsellerlisten unterwegs sind, ist es unbedingt geboten, die Shoah, ihre Ursachen und Folgen, bis zur letzten Quelle zu beforschen, um zu verhindern, dass sich ein vergleichbares Totalversagen der Menschlichkeit jemals wiederholen kann.

Überdruss beim Thema Holocaust? Bitte nicht herbeireden

„Die derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklungen machen ein gegenwartsbezogenes historisches Lernen besonders wichtig. Das ist schon eine spezielle Situation, in der sich junge Menschen heute mit dem Thema auseinandersetzen“, sagt Steinbacher.

Dass es vor allem unter Schülern und Studenten eine Art Überdruss am Thema gebe, kann die Professorin nicht bestätigen. Sie hält das Wort vom Überdruss für eine performative Strategie, mit der rechte Revisionisten eben diesen Überdruss herbeizureden suchen. Jenen Leuten, die meinen, man solle sich von der Last der Vergangenheit befreien, kann man laut Steinbacher nur Folgendes sagen: „Die Massenverbrechen, die im Dritten Reich verübt wurden, das waren keine Unfälle und sicher nichts, was verjährt. Die Shoah ist ein Ereignis von einer solchen historischen Tragweite, dass man sich immer wieder ganz genau anschauen muss, was da eigentlich passiert ist und wie es dazu kommen konnte.“

Die Historikerin Sybille Steinbacher.
Die Historikerin Sybille Steinbacher.

© Stein Jena/dpa

Die Perspektive, die Sybille Steinbacher bei ihrer Forschung gewählt hat, ist eine, die nicht bloß die Machenschaften ausgewiesener Nazis, sondern die Haltung der Gesellschaft im Ganzen in den Blick nimmt. Steinbacher untersucht, auf welche Weise die Entrechtung, Verelendung und Ermordung der europäischen Juden gesamtgesellschaftlich getragen wurde. Für die Historikerin ist es dabei unentbehrlich, alle Akteure in den Blick zu nehmen, die im weitesten Sinne an der Shoah beteiligt waren. Also nicht bloß jene zu fokussieren, die in Berlin befohlen und in Birkenau gemordet haben.

"Unbescholtene" Bürger, die denunziert, profitiert oder geschwiegen haben

So war der Holocaust nicht zuletzt auch ein gigantischer Ausplünderungsvorgang, an dem unzählige Personen beteiligt waren, die sich im Zuge des sogenannten Arisierungsprozesses bereicherten. „Mittlerweile wissen wir zum Beispiel, dass 1943 in Hamburg und anderswo öffentliche Versteigerungen jüdischer Besitztümer stattgefunden haben, die von einem großen Publikum besucht worden sind“, sagt Steinbacher. All die ach so unbescholtenen Bürger, die denunziert, profitiert oder geschwiegen haben, während ihre Nachbarn über Nacht aus ihren Wohnungen verschwanden, und die die Mordpolitik letztlich mittrugen, werden in Steinbachers Perspektive einbezogen.

Schon in ihrer Magisterarbeit über Dachau befasste sich die junge Historikerin, die selbst aus der Nähe von Dachau stammt, mit den privaten und beruflichen Beziehungen, die die Stadtbewohner zum Konzentrationslager unterhielten. Unter anderem fand sie heraus, dass Dachauer Händler das Lager regelmäßig belieferten und dass es ein geselliges Miteinander von Stadtbewohnern und SS-Leuten gab.

Bis zu ihren umfassenden Recherchen pflegte man die Legende von den zwei Dachaus als völlig getrennten Sphären. Als hätte die Stadt mit dem Lager nicht das Mindeste zu tun gehabt. Als hätten sich die Bewohner 1945 erstaunt die Augen gerieben und zum ersten Mal erfahren, was in ihrer Nachbarschaft geschehen war. Sybille Steinbacher dekonstruierte schon in jungen Jahren den hartnäckigen Mythos, nach dem eine überschaubare Bande von Naziverbrechern der überrumpelten und letztlich unschuldigen Gesellschaft braunen Sand in die Augen gestreut hatte.

Viele lehnten Steinbachers Buch über Dachau ab

Mit ihrer Aufklärungsarbeit hat sich Steinbacher nicht nur Freunde gemacht. Zwar gab es einige Unterstützer, aber auch viele Leute in Politik und Gesellschaft, die der festen Überzeugung waren, dass die Welt ein Buch wie das ihre nicht braucht. Mitte der 90er Jahre war die Erinnerungskultur noch keineswegs so tief in der Gesellschaft verankert, wie sie es heute ist. Inzwischen, sagt Steinbacher, gehe die Stadt Dachau aber vorbildlich mit ihrem fürchterlichen Erbe um.

Die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit hat in Deutschland mehrere Etappen genommen. Von Fritz Bauer und den Frankfurter Auschwitzprozessen über den Protest der 68er gegen die Generation ihrer Eltern bis zu den öffentlichen Kontroversen der 90er Jahre. So haben unter anderem erst die Wehrmachtsausstellungen das schiefe Bild von der „sauberen Wehrmacht“ korrigiert. Bis dahin hatte man deren Verstrickung in die nationalsozialistische Vernichtungspolitik und deren Verbrechen an der Ostfront weitgehend geleugnet.

Erst seit etwa 20 Jahren wird die Vergangenheit in Deutschland auf dem heutigen Niveau bewältigt. Sybille Steinbacher hat einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu geleistet. In ihrer Promotion befasste sie sich mit dem Zusammenhang von Judenvernichtung und Germanisierungspolitik in Auschwitz. Ihre Habilitationsschrift untersuchte die strenge Sexualmoral der 50er Jahre – nur scheinbar ein ganz anderes Thema. Denn im verklemmten Nachkriegsdeutschland verbarg man die Schuld hinter geblümten Gardinen und leuchtend weißen Bettlaken. Den Umstand, dass man als Gesellschaft moralisch bankrottgegangen war, wurde durch eine übermäßige Sittlichkeit in Sexualfragen kompensiert.

Eine eigenständige Konturierung der Holocauststudien

Vor dem Hintergrund, dass sich Teile der deutschen Bevölkerung heute in jene Zeit zurückwünschen, als man Auschwitz nicht zu erinnern brauchte, ist der Ruf Sybille Steinbachers an die Frankfurter Universität umso bedeutender. Dabei legt sie Wert darauf, dass das Forschungsfeld mit der ersten Voll-Denomination der Professur „Geschichte und Wirkung des Holocaust“ keineswegs neu erfunden werde. An qualifizierten Forschern herrsche in Deutschland kein Mangel.

Dennoch sei eine eigenständige Konturierung der Holocauststudien schon deshalb zu begrüßen, weil sich das Forschungsgebiet mit der Entwicklung der vergleichenden Genozidforschung und der soziologischen Gewaltforschung in den letzten Jahren stark diversifiziert habe. Auch die symbolische Wirkung, die von der Einrichtung einer solchen Professur ausgehe, dürfe man nicht unterschätzen, sagt Steinbacher.

Dass die lebendige Erinnerung zu einem festen Bestandteil der politischen Kultur geworden ist und das deutsche Selbstverständnis heute prägt, ist keinesfalls selbstverständlich. Vielleicht kann Sybille Steinbacher, die mit ihrem Lehrstuhl auch den Vorsitz des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts, des Studien- und Dokumentationszentrums zur Geschichte und Wirkung des Holocaust übernommen hat, dazu beitragen, dass es so bleibt.

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