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Neuronen. Udo Balling forscht an Parkinson. "Wir wollen das Gehirn als große Unbekannte angehen", sagt er.

©  LCSB

Systembiologie: Von Null auf Spitzenforschung

Bis vor wenigen Jahren hatte Luxemburg nicht einmal eine Universität. Jetzt hat es sogar ein international konkurrenzfähiges Zentrum für Systembiologie.

Als der Anruf aus Luxemburg kam, war Rudi Balling gerade in den USA unterwegs – in Cambridge, in einem der renommiertesten Forschungszentren der Welt. Ob er Interesse habe, ein interdisziplinäres Forschungsinstitut für Systembiologie aufzubauen? In Luxemburg? In einem winzigen Stadtstaat, der auf der Landkarte der Wissenschaft praktisch nicht existierte? „Da war Null“, sagt Balling. „Und natürlich war ich zunächst skeptisch.“

Jahrelang hatte Balling deutsche Großforschungszentren geleitet – erst in München das Institut für Säugetiergenetik der GSF ins Genomforschungszeitalter geführt, dann die Gesellschaft für Biotechnologische Forschung zum Helmholtzzentrum für Infektionsforschung umgebaut. Anfang 2009 hatte sich der Genetiker ein halbes Jahr Auszeit in Cambridge genommen – allerdings nicht, um auf dem Charles River zu segeln, sondern um mit damals 56 nochmal an Harvard Universität und Massachusetts Institute of Technology (MIT) Mathematik zu büffeln. „Wenn man die Systembiologie voranbringen will, dann muss man die Sprache dieser Wissenschaft auch selbst beherrschen.“ Nachdem das Leben Jahrhunderte lang zerlegt und in Einzelteilen analysiert wurde, will Systembiologie das Zusammenspiel von Genen, Biomolekülen, Zellen und Geweben studieren. Mit Computerhilfe soll das Wissen über die Einzelteile zusammengeführt werden. Dieses Konzept ausgerechnet in Luxemburg umzusetzen zu können, hatte Balling nicht erwartet.

Dabei hatte das kleine Großherzogtum kaum bemerkt vom Rest der Welt seit 2003 eine interessante Entwicklung genommen. Im Süden des Landes, wo früher die Hochöfen der Luxemburger Stahlindustrie standen und mit deren Untergang Tausende Arbeitsplätze verloren gingen, entstand eine Universität. „Vorher gingen alle ins Ausland zum Studieren, mit Stolz“, sagt Balling. Der Auslandsaufenthalt erweitere den Horizont, war das Argument gegen eine landeseigene Universität. „Heute ist die Universität ein anerkannter und wichtiger Bestandteil der luxemburgischen Gesellschaft.“ Über die Jahre investierte Luxemburg eine Milliarde Euro in den Strukturwandel. „Die größte Baustelle Europas“, sagt Balling.

Ein 140 Millionen Euro schweres Förderprogramm sollte naturwissenschaftliche Strukturen schaffen, vor allem im biomedizinischen Bereich. Teil des Konzepts war von Anfang an ein Systembiologiezentrum. „Hier hatte ich zum ersten Mal die Chance, etwas von Grund auf aufzubauen und alle Fehler selbst zu machen.“ Sicher habe es auch eine Rolle gespielt, dass er aus der Eifel stammt und nur ein paar Kilometer von der luxemburgischen Grenze entfernt aufwuchs. „Ich bin hier kein Legionär“, sagt Balling. Das sei anders als in Singapur, China oder Indien, wohin Top-Forscher für ein paar Jahre mit viel Geld gelockt werden, dann aber wieder an die europäischen oder US-amerikanischen Institute zurückkehren, ohne selbstständige Strukturen zu hinterlassen. Aus dem Nichts ein international konkurrenzfähiges Institut zu etablieren, braucht mehr als Geld. Anfangs versuchte Balling, bereits erfolgreiche Forschergruppen nach Luxemburg zu locken. „Das hat nicht funktioniert, weil keiner das Risiko eingehen wollte, womöglich mehrere Jahre nicht auf höchstem Niveau forschen und publizieren zu können.“

Aus dem Uni-Keller in ein modernes Gebäude für 230 Forscher

Also holte er junge Leute. Noch in Cambridge testete er geeignete Kandidaten – beim zwanglosen Stammtisch deutscher Exil-Forscher bei Bier und Pizza. „Da fühlt sich keiner wie bei einem Jobinterview.“ Der erste, der nach Luxemburg umzog, war der junge Forscher Karsten Hiller, ein MIT-Experte für die systematische Untersuchung von Stoffwechselwegen (Metabolomics). Anfangs musste er seine Geräte im Keller eines Unigebäudes aufbauen. Erst 2011 stand das erste eigene Gebäude für Ballings „Luxembourg Centre for Systems Biomedicine“ (LCSB). Inzwischen sind die 230 Forscher in ein neues Gebäude im Stadtteil Belval umgezogen. „Mit Blick auf die denkmalgeschützten Hochöfen der ehemaligen Stahlproduktion“, sagt Balling.

Der deutscher Genetiker Rudi Balling ist Gründungsdirektor des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine an der Universität Luxembourg.
Der deutscher Genetiker Rudi Balling ist Gründungsdirektor des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine an der Universität Luxembourg.

© Promo

Thematisch hat sich das Institut auf die Parkinson-Krankheit konzentriert. „Wir wollen das Gehirn als große Unbekannte angehen“, sagt Balling. Und das Konzept scheint aufzugehen, gemessen am Einwerben von Forschungsgeldern: Zusätzlich zum Jahresbudget des Instituts von zehn Millionen Euro habe man über die Jahre rund 40 Millionen Euro Drittmittel aus dem Ausland eingeworben, sagt Balling. Zwei Projekte der Innovative Medicine Initiative, die je zur Hälfte von der Europäischen Union und der Pharmaindustrie gefördert werden, laufen am LCSB.

Und der Fond Nationale de la Recherche (FNR), vergleichbar mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft, hat das LCSB zum Center of Excellence in Research erklärt, was für mindestens acht Jahre eine jährliche Unterstützung von zwei Millionen bedeutet. „Außerdem werden wir ein Knotenpunkt sein für ELIXIR, eine der europäischen Infrastrukturmaßnahmen in der Bioinformatik“, sagt Balling. Und bald sollen in Luxemburg auch die klinischen Daten von Parkinson-Patienten aus dem internationalen Parkinson-Konsortium gelagert und analysiert werden.

Klein zu sein entpuppt sich dabei als ein großer Vorteil. „Luxemburg kann ein Experimentierfeld für neue Ideen aus der Wissenschaft und Entwicklungen sein, die im deutschen föderalen System zu lange brauchen, bis sie realisiert werden“, argumentiert Balling. So gibt es in Luxemburg nur eine Krankenkasse und nur vier Kliniken, mit denen über die Einführung biomedizinischer Innovationen für eine personalisiertere Medizin zu diskutieren ist. „Auch hier gibt es kontroverse Diskussionen“, sagt Balling. „Aber es geht schneller, die relevanten Leute an einen Tisch zu kriegen und für das Land und die Patienten zu entscheiden.“

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