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Wissen: Tauschgeschäft mit dem Teufel

Ein ungarischer Jude rettete mehr als 1600 Menschen vor dem Holocaust. Einer der Geretteten hat ihm jetzt ein Denkmal gesetzt

Er versuchte, den organisierten Massenmord an den ungarischen Juden zu verhindern. Dafür ließ er sich auf Verhandlungen mit den Mördern ein. Rudolf (Rezsö) Kasztner eröffnete 1600 Menschen den rettenden Weg in die Schweiz. Zehn Jahre später wurde er in Israel als angeblicher „Verräter seines Volkes“ ermordet. Nacherzählt wird diese Geschichte von einem der 1600 von Kasztner Geretteten, der die Geschehnisse als verängstigter Elfjähriger miterlebt hat. Heute, als emeritierter Deutsch-Professor im englischen Brighton, hat Ladislaus Löb seinem Retter ein Denkmal gesetzt.

Ungarn war im Zweiten Weltkrieg mit Deutschland verbündet, die ungarischen Juden wurden seit 1920 unterdrückt und wirtschaftlich eingeengt. Aber vor der organisierten, industriell betriebenen Vernichtung blieben sie zunächst bewahrt. Bis am 19. März 1944 deutsche Truppen einmarschierten, um den bevorstehenden Seitenwechsel der ungarischen Regierung zu den Alliierten zu verhindern.

Während die offizielle jüdische Führung sich der Illusion hingab, die Juden des Landes durch Kooperation schützen zu können, versuchte ein kleines zionistisches Hilfskomitee in Budapest, dem bevorstehenden Massenmord Einhalt zu gebieten. Dies waren junge Leute, die sich zusammengetan hatten, um illegalen polnisch-jüdischen Flüchtlinge in Ungarn zu helfen. Einer ihrer Anführer war Rudolf Kasztner, Jahrgang 1906, Zionist aus dem rumänisch-ungarischen Cluj, Sohn frommer Eltern, hoch begabt und durchsetzungsfähig.

Ausgerechnet dieser kleinen Gruppe bot die SS-Führung ein von ihr als „Blut gegen Ware“ bezeichnetes Tauschgeschäft an: den vorgeblichen Verzicht auf den Massenmord im Austausch gegen kriegswichtige Güter. Jüdisches Leben gegen Lastwagen und Dollars, zuletzt gegen Kaffee. Wie weit dies ernst gemeint war, ist bis heute offen. Fest steht, dass Himmler, auf den der makabere Handel mutmaßlich zurückgeht, bis zuletzt mit dem Gedanken eines „Separatfriedens“ mit den Alliierten spielte. Fest steht ebenso, dass derselbe Himmler bis fast zuletzt jeden Juden umbringen ließ, dessen er habhaft werden konnte. Im Höllenreich der Nazis galt Judenmord als Normalität; der Verzicht darauf als großzügige Geste.

Dass sich die Alliierten auf ein solches Angebot nie einlassen würden, war Kasztner von Anfang an klar. Aber ebenso kam es aus seiner Sicht darauf an, den Schein des Entgegenkommens zu wahren, und mit allen erdenklichen Mitteln – Bluff, Lüge, Bestechung – lebensrettende Zeit zu gewinnen. Nachdem der erste von den Deutschen bestimmte Emissär der Gruppe, Joel Brand, von den Engländern als Deutscher Spion festgenommen und handlungsunfähig gemacht worden war, wurde Kasztner zum Mann der Stunde. Von jüdischen Organisationen der freien Welt halbherzig unterstützt, trieb er die entsprechenden Verhandlungen voran. Er bereiste (manchmal in Nazi-Uniform) gemeinsam mit einem hohen SS-Chargen, dem daran gelegen war, sich für die bevorstehende Nachkriegszeit eine gute Ausgangsposition zu verschaffen, Konzentrationslager. Und er war daran beteiligt, dass zumindest einige den Alliierten „intakt“ übergeben wurden, also ohne das vorherige Abschlachten der Insassen.

Doch konnte er nur ein einziges Tauschgeschäft erfolgreich abschließen: den „Kasztner-Zug“ mit 1600 Menschen, den er, nach monatelangem Zwischenaufenthalt in Bergen-Belsen, mit sehr viel Geld und großer Mühe in die sichere Schweiz leitete. Kasztner gilt als der Jude, der während der Nazi-Zeit die meisten Juden gerettet hat.

Doch tat er dies, während in Ungarn eine halbe Million Juden der deutschen Mordmaschine zum Opfer fielen. Man hat Kasztner später angelastet, dass er die anderen nicht laut und eindringlich genug gewarnt habe. Als die ersten Deportierten aus Cluj, seiner Heimatstadt, von den Nazis dazu gebracht wurden, auf Postkarten ihre neue Lage in einer Art Feriendorf in rosigen Farben zu beschreiben, hätte er die Täuschung nicht aufgedeckt, um seine Verhandlungen nicht zu gefährden.

Nach dem Krieg zog Kasztner ins neu gegründete Israel, bekam einen Regierungposten als Sprecher des Wirtschaftsministeriums und einen Listenplatz für die anstehenden Parlamentswahlen. Daraufhin wurde er von einem zweiundsiebzigjährigen Ungarn in einem Flugblatt angegriffen. Der Mann hatte fünfzig Angehörige im Holocaust und einen Sohn im israelischen Unabhängigkeitskrieg verloren. Man hätte den in wenigen hundert Exemplaren verbreiteten Aufruf auf sich beruhen lassen können, was Kasztner eigentlich beabsichtigte. Doch die Staatsanwaltschaft meinte, dem Ansehen des jungen Staates einen Beleidigungsprozess schuldig zu sein. Kasztner willigte schließlich ein – um ihn zu verlieren. Die Wut über das in der Shoa Geschehene, die Verzweiflung über die eigene Ohnmacht hatten ein konkretes Ziel gefunden.

Rudolf Kasztner verlor Regierungsposten und Listenplatz. Seiner Tochter wurden auf dem Schulweg Steine nachgeschmissen, seine Frau lag antriebslos mit Depressionen im Bett. Den günstigen Ausgang des Revisionsprozesses hat er nicht mehr erlebt. Am 15. März 1957 wurde Rudolf Kasztner vor seiner Wohnung in Tel Aviv von jungen Extremisten „als Verräter seines Volkes“ niedergeschossen.

Die um Objektivität bemühte, auf zahlreiche Quellen, eigene Erinnerungen und Erinnerungen anderer abgestützte Darstellung von Ladislaus Löb zeichnet ein umfassendes Bild von Kasztner und dem Kasztner-Prozess. Es war die erste öffentliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust in Israel, die das Selbstverständnis des Staates Israel nachhaltig beeinflusst hat.

Ladislaus Löb: Geschäfte mit dem Teufel: Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Bericht eines Überlebenden. Böhlau-Verlag, Köln, 2010. 360 Seiten, 24,90 €

Stephen Tree

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