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Teilchenbeschleuniger: Die Urknallmaschine

In wenigen Monaten ist es so weit - dann startet am Kernforschungszentrum Cern in Genf das größte Experiment aller Zeiten: eine Simulation des Big Bang.

Nicht weit vom Stadtzentrum Genfs erstreckt sich eine Anlage, die es in sich hat. Die Kulisse ist ländlich, fast idyllisch mit Dörfern, Kirchen und dem einen oder anderen Weinhang. Im Hintergrund ragen die schneebedeckten Alpen hervor. Wie auf einer kitschigen Postkarte. An einem klaren Tag kann man sogar den Montblanc sehen.

Dagegen wirkt das Areal selbst, 600 Fußballfelder groß, trist, geradezu trostlos. Eine öde Lagerhalle hier, karge, kistenförmige Betonbauten im Stil der 1960er Jahre dort, an manchen Stellen blättert der Putz ab, man will gar nicht hingucken. Einige Hallen bestehen nur aus Holz mit einem Wellblechdach, andere sind undicht, da kann es schon mal hineinregnen. Insgesamt hat das Ganze den Charme eines heruntergekommenen Industriegeländes. Und dies soll das berühmte, europäische Kernforschungszentrum Cern sein, wo bald das größte Experiment aller Zeiten stattfinden wird?

Erst wenn man tiefer eindringt, bekommt man eine Ahnung von der Dimension dessen, was hier im Begriff ist, vollbracht zu werden.

Für die Physiker, Ingenieure und Techniker, die das Projekt geschaffen haben, die ein Teil davon sind, ist es schlicht das Nonplusultra der Naturwissenschaften. Worauf sie hinarbeiten, ist nicht einfach nur ein Experiment. Es ist das Experiment.

Das Nonplusultra der Naturwissenschaften

Kritiker halten das Vorhaben für einen Irrsinn, für Größenwahn, manche sehen sogar unsere Erde in Gefahr – sie befürchten unser aller Untergang, sobald das Ungeheuer von Genf zum Leben erweckt wird.

Und dieser Zeitpunkt rückt immer näher: In wenigen Monaten, offiziell am 21. Oktober, unter der Hand vielleicht schon im August, soll es so weit sein. Dann geht der LHC, der Large Hadron Collider, die komplexeste Maschine der Welt, in Betrieb. Was damit bezweckt werden soll? Nichts Geringeres als eine Simulation des Urknalls en miniature. Die Geburt des Universums, reloaded. Immer und immer wieder. 600 Millionen Mal pro Sekunde, um genau zu sein.

„Die ganze Physikerwelt starrt gebannt auf diese eine Maschine“, sagt Hermann Nicolai, der jahrelang am Cern geforscht hat und nun Direktor am Albert- Einstein-Institut in Potsdam ist. „Das hat es so noch nie gegeben.“

Herzstück des Technik-Monstrums ist ein 27 Kilometer langer kreisrunder Tunnel, der sich tief – im Durchschnitt 100 Meter – unter der Erde befindet (siehe Grafik unten). Hier werden die Forscher in zwei armdicken Vakuumstahlröhren Protonen, Teilchen aus dem Kern von Atomen, auf 99,999999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und frontal zusammenstoßen lassen.

Simulation des Urknalls

Was dann passiert, weiß keiner so genau, eben das soll ja studiert werden. Sicher ist: Bei der Kollision werden enorme Kräfte auf engstem Raum freigesetzt. Pure Energie. Ähnlich wie einst zu Zeiten des Urknalls. So will man erstmals im Labor rekonstruieren, was eine Billionstelsekunde nach dem Big Bang geschah.

Damit soll der LHC Licht auf Fragen werfen, auf die bisher weder Philosophie noch Wissenschaft Antworten gefunden haben. Was geschah in jenen ersten Augenblicken, als unser Universum entstand? Wie bildete sich das All? Wie die Materie mitsamt den Galaxien, der Erde und schließlich auch dem Menschen?

„Willkommen im Mekka der Teilchenphysik“, sagt Michael Eppard, ein deutscher Cern-Physiker mit randloser Brille und Dreitagebart. Eppard arbeitet an einem Detektor namens Compact Muon Solenoid, kurz CMS. „Vorsprung durch Technik“, steht auf der einen Seite seines weißen Schutzhelms, auf der anderen: „Beware of Bluetooth: Use other ear“; damit weist er seine Kollegen dezent darauf hin, sie mögen doch bitteschön in sein anderes Ohr sprechen, da sich in diesem die drahtlose Schnittstelle zu seinem Handy befindet.

Eppard steigt in einen Transportfahrstuhl, quetscht sich zwischen ein Dutzend Kollegen, alle im blauen Overall mit Helm, und es geht runter. 10 Meter, 20, 30, 50, 80.

Eine silbern glitzernde Riesenturbine

Als sich die Fahrstuhltür öffnet, blitzen die Augen des Physikers hin und her. Etwas, das aussieht wie eine rot-silbrige Riesenturbine, erhebt sich vor uns, hoch wie eine Kathedrale, 15 Meter breit, über 20 Meter lang. Das ist der Teilchendetektor CMS.

Die gewaltige Maschine, die mehr Stahl als der Eiffelturm enthält, liegt offen da, wie ein Patient auf einem OP- Tisch. Bunte Kabel ragen aus dem Metallkörper heraus wie freigelegte Adern. Es müssen nur noch einige letzte Eingriffe vorgenommen werden, das Vakuumrohr etwa fehlt noch. Eppard blickt steil nach oben. „Das bauen wir ganz zum Schluss ein.“

Die Protonen werden im Beschleuniger in entgegengesetzter Richtung rasen, im einen Rohr links-, im anderen rechtsherum. Dabei passieren sie, völlig unkontrolliert, sechsmal die schweizerisch- französische Grenze, da der Tunnel durch beide Länder verläuft.

An vier Punkten im Tunnel werden die beiden Röhren und damit die Protonenstrahlen vereint. Magnete führen die Strahlen – wie eine Lupe das Sonnenlicht – so zusammen, dass sie genau am gewünschten Ort kollidieren: Dort, wo die Detektoren stehen. Dort, wo die eigentlichen Experimente und Messungen stattfinden.

Wenn Einstein wüßte...

Einer dieser Detektoren ist der CMS, ein anderer wird Atlas genannt. Man kann sich die Geräte vorstellen wie eine Hightech-Zwiebel, durch die man einen Strohhalm sticht. Die Schalen stellen in diesem Bild den Detektor dar, der Strohhalm das Vakuumrohr; darin prallen die Protonen aufeinander.

Vakuum, das klingt nach einem absolut leeren Raum. Das stimmt aber nicht ganz. Im Vakuum ist zwar die gesamte Materie verschwunden. Selbst in dieser Leere jedoch wimmelt es noch von allerlei unfassbaren Energiefeldern.

Hier kommt Einstein ins Spiel. Energie und Materie, entdeckte das Physikgenie, sind zwei Seiten einer Medaille, oder, mathematisch ausgedrückt: E=mc2. Die berühmteste Formel der Welt besagt, dass sich Materie in Energie verwandeln lässt, und umgekehrt: Aus Energie kann Materie entstehen.

Das ist es, was im Beschleuniger passiert. Die durch den Aufprall erzeugte Energie regt die Felder im Vakuum zur Bildung von Materie, von Teilchen, an. Teilchen sind aus dieser Sicht nichts anderes als angeregte Energiefelder. Regt man das Elektronenfeld an, gibt es ein Elektron, beim Protonenfeld ein Proton.

Die Energie ist so hoch, dass sich ein ganzer Zoo von Teilchen bildet, eine Art Partikel-Ursuppe. Wie damals, unmittelbar nach dem Urknall.

Die Konkurrenz schläft nicht

Die Teilchen schießen in alle Richtungen, zerfallen teils wiederum in andere Teilchen, die, um im Bild der Zwiebel zu bleiben, von den diversen Detektorschichten „abgefangen“ werden. Magnete lenken die Partikel auf ihrem Weg durch den Detektor ab, ihre Bahnen werden mehr oder weniger gekrümmt.

„Aus den Krümmungsbahnen lässt sich auf die Identität des Teilchens schließen“, sagt der Physiker Thilo Pauly, ein junger Mann von Mitte 30. Pauly trägt ein braunes Shirt mit brauner Cordhose. Er kam nach Stationen in Heidelberg und Oxford ans Cern und ist seit vier Jahren Teil des Atlas-Teams. „Es ist wie beim Tatort“, sagt der Physiker. „Anhand der Spuren, die im Detektor hinterlassen werden, versucht man, den Täter ausfindig zu machen.“

Eppard und Pauly sind Konkurrenten. CMS gegen Atlas. Beide Detektoren sind vom Grundaufbau her ähnlich, nur im Detail weichen sie voneinander ab, wobei es selbstverständlich so ist, dass die CMS- Mitarbeiter das CMS für das intelligentere System halten, und umgekehrt.

Sowohl das CMS- als auch das Atlas- Team bestehen aus je um die 2000 Forscher. Was nach Redundanz und Verschwendung klingt, erfüllt einen wichtigen Zweck: Da die Experimente, die am LHC gemacht werden, nirgends sonst auf der Welt überprüft werden können, ist es sinnvoll, wenn es an Ort und Stelle unabhängige Labors gibt, die ihre Befunde gegenseitig kontrollieren. Die Konkurrenzsituation hat die Forscher zu Höchstleistungen getrieben – ein Druck, der mit dem bevorstehenden Start noch steigt.

Jahrelange Arbeit nähert sich ihrem Ziel

Seit Jahren arbeiten die Physiker auf diesen einen Moment hin. Drei Jahrzehnte ist es her, da tauchte die Idee für den LHC erstmals auf, 14 Jahre hat man daran gebaut, gut sechs Milliarden Euro hat das Projekt verschlungen.

Um das Budget zu stemmen, musste der Gürtel am Cern eng geschnallt werden. Man sparte an den Gebäuden. Am Personal. An allen anderen Forschungsprojekten des Zentrums, nur damit dieses eine Superbaby überleben konnte. Schließlich hat man sich mit einem Multimillionenkredit verschuldet und alles auf eine Karte gesetzt, auf den Large Hadron Collider.

„Das hier ist das Aufregendste, was ich in meinem Leben gemacht habe“, sagt der unter Dauerstrom stehende Eppard. „In meinem beruflichen.“ Ein leichter Schatten zieht sich unter seine wachen Augen. Es ist eine Mischung aus Erschöpfung und Euphorie, die dem Mann ins Gesicht geschrieben steht. Eppard fiebert dem Tag entgegen, an dem es endlich losgeht.

Dann ist das Rennen eröffnet. Sobald die ersten Protonen im LHC-Tunnel auf Hochtouren gebracht werden, kann die Jagd beginnen. Allen voran die Jagd nach dem „Gottesteilchen“.

Die Welt der Elektronen, Protonen und Quarks

„The God particle“, so hat der US-Nobelpreisträger Leon Lederman jenes ominöse Teilchen getauft, das auf der Most- Wanted-Wunschliste der Teilchenphysiker mit Abstand an oberster Stelle steht. Eigentlich heißt es „Higgs-Teilchen“, nach dem britischen Theoretiker Peter Higgs, der es 1964 beschrieb.

Es gibt in der Physik ein Gedankengebäude, das den Aufbau der Materie, mit den Elektronen, Protonen, Quarks und den zahlreichen anderen Teilchen sowie den Kräften, die zwischen ihnen wirken, nahezu vollständig erfasst. Man nennt diese Theorie das Standardmodell.

Seit den knapp 40 Jahren seiner Existenz ist das Standardmodell nie widerlegt worden. Alle neu entdeckten Teilchen hat man mit seiner Hilfe vorhersagen können. Ja, das Standardmodell sagt Experimentalergebnisse voraus, die bis auf mehrere Stellen hinter dem Komma korrekt sind.

Das Standardmodell ist das, was man eine verdammt gute Theorie nennen könnte, es hat nur einen Schönheitsfehler: Es ist unvollständig. Ein wichtiges Puzzlestück fehlt. Die Theorie erklärt eine Sache nicht, und die ist leider ziemlich fundamental.

Leichte und schwere Teilchen

Es ist die Frage, wie die Materie zu ihrer Masse kommt. Warum ist nicht alles so unendlich leicht wie Licht? Wieso gibt es einerseits leichte Teilchen, wie das Elektron, und andererseits schwere, wie das Proton?

Vor Jahrzehnten schlug Peter Higgs eine Lösung vor. Er nahm an, dass es ein Energiefeld gibt, das Higgsfeld, das den gesamten Kosmos durchzieht. Das Higgsfeld befindet sich um uns herum, in uns, einfach überall.

Wie eine Art unsichtbares Gel durchzieht das Higgsfeld den Raum. Das heißt auch, dass sich jede Materie durch dieses Gel hindurchmanövrieren muss. Und in der Hinsicht unterscheiden sich die verschiedenen Teilchen.

Manche, wie das Elektron, sind gewissermaßen nackt und schießen widerstandslos durch das Gel hindurch. Sie sind leicht und schnell. Bei anderen Partikeln ist es, als hätten sie Kleider an und Stiefel, die im Gel stecken bleiben, was sie langsam und schwer macht.

Die Suche nach dem Higgsteilchen

Man kann sich das Higgsfeld auch als Saal voller Paparazzi vorstellen. Betritt ein Unbekannter den Saal und will ihn durchqueren, kann er das ohne Probleme. Taucht ein Star wie Madonna auf, hängen sich sofort alle Paparazzi an sie ran. Die Folge ist: Madonna kommt im Paparazzifeld nur langsam vorwärts. Es ist, als wäre sie schwer geworden.

Higgs macht das Standardmodell rund. Einziger Haken: Bislang hat kein Mensch auch nur ein einziges Higgsteilchen beobachtet. Higgs ist reine Hypothese. Noch.

Das soll sich mit dem LHC ändern. „Wenn wir Higgs nicht finden, dann wird keiner es finden“, sagt Cern-Sprecher James Gillies, ein hagerer Brite, graues Sakko, graue Turnschuhe. „Es wäre natürlich auch möglich, dass die Amerikaner es noch entdecken, bevor wir hier beginnen, aber daran will ich jetzt einfach mal nicht denken.“

In den USA fahnden der Nobelpreisträger Lederman sowie etliche Kollegen bereits seit Jahren nach dem Higgsteilchen, und zwar am derzeit stärksten Teilchenbeschleuniger namens Tevatron in der Nähe von Chicago. Der LHC aber ist siebenmal stärker. „Sobald der LHC läuft, spielt hier die Musik“, sagt der CMS-Physiker Eppard. „Dann können die Amerikaner abschalten.“

10.000 Wissenschaftler aus 111 Nationen

Sollte es gelingen, das Higgsteilchen ausfindig zu machen, wäre das Standardmodell bestätigt. Und wenn nicht? „Dann müsste die Physik der letzten 30, 40 Jahre umgekrempelt werden“, sagt Gillies.

Das klingt dramatisch und ist es auch, es ist aber nicht das schlimmste Szenario. „Neulich war Peter Higgs bei uns zu Besuch und meinte, das Allerschlimmste wäre, wenn wir nur das Higgsteilchen und sonst nichts finden würden“, sagt Gillies. Dann würde das Standardmodell zwar gelten. Davon aber geht man ohnehin seit Jahrzehnten aus. Gillies: „Wir hätten nichts dazugelernt.“ Und das zum Preis von einigen Milliarden.

In der Cafeteria des Cern. Dutzende von Menschen huschen hin und her, Tabletts in den Händen. Männer, Frauen, viele erstaunlich jung, sie sitzen eng beieinander an den Tischen wie in einem Biergarten, stochern in einem Menü „Proton“ oder „Neutron“, diskutieren.

Am Cern arbeiten alles in allem rund 10 000 Wissenschaftler aus 111 Nationen, ein Teil vor Ort, ein Teil an ihren Heimatinstituten. Cern wurde 1954 gegründet, nicht zuletzt mit dem Ziel, das kriegsversehrte Europa über die Wissenschaft wieder zusammenzubringen.

Cern wird zur Pilgerstätte

Aus der Idee wurde Wirklichkeit. Heute gibt es kaum einen Ort auf der Welt, wo gegensätzliche, ja verfeindete Nationen zugleich so intensiv und entspannt zusammenarbeiten wie hier. Israelis und Palästinenser forschen ebenso Tür an Tür wie Amerikaner und Iraner. „Gestern hatten wir eine kleine Party“, erzählt Eppard. „Da haben ein Inder und ein Pakistani Rezepte ausgetauscht.“

Ganze Doktorarbeiten wurden allein über die lockere, nicht-hierarchische Organisationsstruktur des Cern verfasst.

Dennoch, für die breite Öffentlichkeit blieb das Cern lange ein Fremdwort. Das änderte sich erst, als eines Tages ein ehemaliger Englischlehrer und Sänger, ein gewisser Dan Brown, sich an seinen Computer setzte und den Thriller „Illuminati“ schrieb. Darin klaut ein Bösewicht am Cern Antimaterie und versucht, den Vatikan in die Luft zu sprengen.

2004 wurde „Illuminati“ zum weltweiten Bestseller. „Statt der monatlich üblichen 25 000 Besucher unserer Internetseite schnellte die Zahl praktisch über Nacht auf eine Viertelmillion und blieb dort“, sagt Gillies. Vor einiger Zeit hat Hollywood-Regisseur Ron Howard dem Cern einen Besuch abgestattet. Howard hat bereits Dan Browns „Sakrileg“ verfilmt, jetzt soll „Illuminati“ folgen.

Das Interesse am Cern wuchs stetig, in den letzten Monaten ist es gar zu einem regelrechten Run auf das Zentrum gekommen. Als man im April ein Wochenende der offenen Türen organisierte, rückten allein an dem Sonntag 50 000 Leute an – mehr als doppelt so viele, wie Gillies erwartet hatte.

Schwarze Löcher mit extremer Dichte

Mit der Popularität stieg auch die Zahl der Verschwörungstheoretiker und Gegner. Manche befürchten, im Beschleuniger könnten Schwarze Löcher entstehen. Schwarze Löcher sind Gebilde von extremer Dichte. Wenn ein Stern explodiert, kann seine Masse zu einem Punkt zusammenfallen. Alles, von den Atomen bis hin zu den herkömmlichen Regeln von Raum und Zeit, wird dabei zerquetscht. Das Materie-Konzentrat entfaltet eine so immense Schwerkraft, dass sogar Licht seinem Sog nicht entkommt.

Kürzlich haben zwei besorgte Zeitgenossen bei einem Gericht in Honolulu eine Klage gegen das Cern eingereicht. Ihr Vorwurf: Auch der LHC könnte Schwarze Löcher hervorbringen, die erst Genf, dann den Genfer See und, wer weiß, am Ende womöglich die ganze Erde verschlucken.

So gut wie alle Physiker halten diese Befürchtung für Unsinn. Zwar könnten sich bei den Protonencrashs tatsächlich kleine Schwarze Löcher bilden – viele, allen voran der Brite Stephen Hawking, hoffen geradezu darauf. Die Schwarzen Löcher werden aber, so die einhellige Meinung der Experten, dermaßen winzig sein, dass sie sofort wieder zerfallen.

Es geht also nicht nur um Higgs, es geht um mehr. Neben den Schwarzen Löchern könnten die Experimente Aufschluss geben über solch rätselhafte Phänomene wie die Dunkle Materie und Dunkle Energie. Beide machen zusammengenommen mehr als 95 Prozent unseres Universums aus, und doch: Wir wissen darüber so gut wie nichts. Außer, dass es sie gibt.

Die Theorie der Supersymmetrie

Manche erhoffen sich Bestätigung für eine Theorie namens Supersymmetrie, mit der man versucht, die Welt der Materie und jene der Kräfte unter einen Hut zu bringen. Andere spekulieren, dass bei den Kollisionen Energie auf scheinbar unerklärliche Weise verschwinden könnte – ein eventueller Hinweis auf versteckte Extra-Dimensionen.

Schließlich besteht noch die Möglichkeit, dass der LHC völlig Überraschendes zutage fördern wird. Eine neue, exotische Physik, von der heute noch niemand etwas ahnt. „Die Schwierigkeit wird darin bestehen, die Signale richtig zu deuten und aus der gewaltigen Datenflut das Relevante vom Irrelevanten zu trennen“, sagt der Potsdamer Theoretiker Nicolai.

Eine Sisyphosarbeit, so viel steht fest. Denn die Informationsmenge, die der LHC Sekunde für Sekunde ausspucken wird, ist gigantisch. Herkömmliche Computersysteme wären ihr nicht im Ansatz gewachsen.

So denkt Wolfgang von Rüden, Chef des Cern-Rechenzentrums, nicht etwa in Megabyte. Selbst Giga- oder Terabyte sind ihm eine Nummer zu klein. Von Rüden denkt in Petabyte, das sind eine Milliarde Megabyte.

Von Rüden ist ein gelassener, gutmütiger Mann mit graumeliertem Vollbart und tiefer Stimme. Seit 33 Jahren ist er am Cern. Er liebt das Leben in der Genfer Umgebung. In seiner Freizeit besteigt er die Alpen oder spielt Saxophon in der Blues-Band „The Canettes“.

In der Höhle des Löwen

Von Rüden zückt seine Magnetstreifenkarte und betritt den Computerraum, Cerns Großhirn. Der Saal ist so groß wie drei Tennisplätze, und was als Erstes auffällt, ist das Rauschen – hervorgebracht von über 50 000 Ventilatoren, eingebaut in Zigtausenden Rechnern.

15 Petabyte wird der LHC jährlich produzieren, das entspricht etwa einem Prozent der globalen Informationsmenge, wie von Rüden schätzt. Allein der CMS- Detektor hat knapp 80 Millionen Messkanäle, durch die ununterbrochen Bits und Bytes flitzen werden. „Die allermeisten Daten werden sofort weggeschmissen“, sagt von Rüden.

Gespeichert werden nur jene, die etwas Aufschlussreiches erkennen lassen. Dazu haben die Wissenschaftler ihre Computer mit Tausenden von Modellen gefüttert, die verschiedene Hypothesen testen. Beispiel: Geht man davon aus, dass Higgs ein ganz bestimmtes Gewicht hat, wird es in ganz bestimmte Teilchen zerfallen, die eine ganz bestimmte Spur im Detektor hinterlassen. Nach diesen Mustern suchen die Computer im Datendschungel.

So entkommt man zwar dem Informations-Overkill. Das Problem ist nur: Man sieht nur noch das, wonach man sucht. Wahrhaft Revolutionäres, Phänomene, mit denen buchstäblich niemand rechnet, könnten auf diese Weise leicht durch die Lappen gehen. Um gegenzusteuern, wird man deshalb in regelmäßigen Abständen Experimentalergebnisse auch einfach blind abspeichern und analysieren, stichprobenartig.

Von Anfang an hat man sich am Cern den Kopf darüber zerbrochen, wie man die Datenflut in den Griff bekommen kann. Nicht von Ungefähr war es ein Cern-Informatiker, Tim Berners-Lee, der 1989 das World Wide Web erfand. Das Web war nichts anderes als der Versuch, den Austausch von Informationen unter den vielen, über die Welt verstreuten Physikern des Cern zu vereinfachen.

Ein einzigartiger Supercomputer

Mittlerweile ist man noch einen Schritt weitergegangen und hat eine Technologie, die man als „Grid“ bezeichnet, gewissermaßen ein Web hoch zwei, ins Leben gerufen. Grids ermöglichen es, nicht nur die Daten verschiedener, weit entfernter Computer zu einem Netz zusammenzuspinnen, sondern auch deren Rechen- und Speicherkapazität. Das Grid für den LHC verbindet über 100 Rechenzentren des gesamten Globus zu einem einzigen Supercomputer.

Im Rauschen der riesigen Computerhalle, inmitten der endlos langen Reihen von Rechnern mit rot, blau, gelb blinkenden Lichtern, beschleicht einen nach und nach das Gefühl, es hier am Cern nicht bloß mit einer sehr großen Maschine zu tun zu haben. Nein, es ist ein unfassbarer Organismus, fast ein lebendes Geschöpf – zu komplex, als dass ein Einzelner es ganz überschauen oder gar kapieren könnte.

Man hat das Cern angegriffen, hat ihm Geldverschwendung vorgeworfen, immer wieder. Nicht selten stand das Schicksal des Beschleunigers in den Sternen.

Als Friedrich Dürrenmatt in den 1970er-Jahren das Cern besuchte, fragte er, ob sich das Forschungszentrum am Ende „nicht vielleicht mehr als eine metaphysische, ja theologische Versuchsanstalt herausstellen könnte“. Ein nüchterner Physiker meinte daraufhin gegenüber dem Schweizer Dramaturgen: Auch wenn es vielleicht paradox klinge, das Cern stelle das weitaus Sinnvollste dar, was Europa je hervorgebracht habe, weil es das scheinbar Sinnloseste sei, „im Spekulativen, Abenteuerlichen angesiedelt, in der Neugierde an sich“.

Was darf Faszination kosten?

Wie viel ist uns der Blick auf den Ursprung aller Dinge wert?  Das Cern hat diese Fragen auf seine Art beantwortet.

Und noch bevor der LHC seinen Vorstoß ins Unbekannte überhaupt aufgenommen hat, hält man in Genf längst Ausschau nach dem nächsten Coup. So hat eine internationale Gruppe von Physikern bereits einen neuen Beschleuniger geplant, noch größer, noch mächtiger als der LHC. Das Cern würde ihn gern bauen, aber auch die Amerikaner und Japaner bieten mit.

In dem zukünftigen „International Linear Collider“ sollen auf einer 31 Kilometer langen Geraden Elektronen und ihre Antiteilchen, Positronen, aufeinander- knallen. Wozu? Nun ja, um einen etwas präziseren Blick auf das zu werfen, was der LHC so ans Licht bringen wird.

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