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Wissen: Tempolimit für das Turbo-Abitur

Länder reagieren auf Proteste: Zurück zum neunjährigen Gymnasium und gestraffte Lehrpläne

Das Turbo-Abitur erregt Eltern, Schüler und Lehrer. G 8, so lautet die Abkürzung für das Abitur nach 12 Jahren, ist zu einem Schimpfwort geworden. Wahlkämpfe in mehreren Ländern sind bereits mit diesem Thema ausgetragen worden. Die Politiker wissen seitdem, dass sie reagieren müssen. Aber wie?

Im März 2008 hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) den „Schwarzen Peter“ an Länder und Kommunen weitergereicht. Eine Umfrage des Tagesspiegels bei den großen Flächenländern Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen und Schleswig-Holstein zeigt nun unter anderem, dass die Länder ihn wieder loswerden wollen. An „Runden Tischen“ kommen die Betroffenen – Schüler, Eltern und Lehrer – mit Bildungsexperten aus den Ministerien und Vertretern der Lehrergewerkschaften zusammen, um die Probleme zu benennen und gemeinsam akzeptable Lösungen zu finden.

Es ist gut, dass die Politiker an die Basis gehen. Denn bei 265 Wochenstunden, die von der 5. bis zur 12. Klasse garantiert werden müssen, ist die Gefahr extremer Belastungen der Schüler groß. Unter diesen Bedingungen müssen theoretisch während einer fünftägigen Schulwoche 33 Stunden angeboten werden. Nachmittagsunterricht wird unvermeidlich. Und der wird dann für Eltern und Schüler unerträglich, wenn er schon Zehnjährigen auferlegt wird und sich an die Schulzeit bis 15 oder 16 Uhr noch zwei weitere Stunden für die Schularbeiten anschließen. Dann belastet die Schule auch noch den Feierabend in der Familie.

Die einfachste Lösung fällt aus: Der Sonnabend als Unterrichtstag könnte Nachmittagsunterricht überflüssig machen, ist in den Familien aber als freier Tag gesetzt. Daran wagen auch die Kultusminister nicht zu rütteln. Es bleiben drei Lösungsansätze: Zurück zum neunjährigen Gymnasium, ein besser organisierter Stundenplan mit der Reduzierung des Nachmittagsunterrichts auf das Allernötigste – oder das Ganztagsgymnasium.

Hessen hat vor kurzem eine pragmatische G8-Reform empfohlen, die verschiedene Ansätze miteinander verbindet – und bundesweit Aufsehen erregt: Das G8-Abitur nach 12 Jahren bleibt bestehen, daneben aber wird ein „ganz normales Angebot“ für das Abitur nach 13 Jahren etabliert. Alle kooperativen Gesamtschulen können schon nach den Sommerferien zu „G 9“ zurückkehren – wenn sich Eltern, Lehrer und die Schulleitung dafür aussprechen.

Die entscheidende Weichenstellung zwischen G8 und G9 erfolgt in der Sekundarstufe I. An Schulen mit einem G8-Programm wird der Gymnasialzweig für fünf Jahre organisiert, an den G9-Schulen dauert er sechs Jahre. Die verlangten Pflichtstunden werden in den fünften und sechsten Klassen so bemessen, dass der Nachmittagsunterricht entfallen kann. Auch die Klassengrößen spielen bei der Hessen-Reform eine Rolle: Eine Begrenzung auf maximal 30 Schüler wird vorgegeben, wenn der Bildungsgang mit dem Abitur nach 12 Jahren enden soll. Schließlich soll den hessischen G8-Schülern freigestellt werden, wann sie mit der zweiten Fremdsprache beginnen: in der fünften, sechsten oder siebten Klasse. Diese Wahlfreiheit kann zur Entlastung beitragen.

Auch in anderen Flächenstaaten bewegt sich etwas. An den Tagen, an denen Nachmittagsunterricht erteilt werden muss, ermöglichen alle eine Entlastung bei den Hausarbeiten. Schularbeiten werden in den Fächern nicht mehr aufgegeben, an denen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen unterrichtet wird: Wer am Dienstag Deutsch hat, bekommt zu Mittwoch keine Deutsch-Hausaufgaben. Baden-Württemberg verlagert an Schulen mit einem Ganztagsangebot die Hausarbeiten weitgehend in die Nachmittagsstunden und bietet seinen Schülern damit eine kostenlose Hausaufgabenhilfe.

Die Entrümpelung der Curricula schreitet ebenfalls voran: Noch konsequenter als zuvor setzten die Schulexperten auf die neuen Kerncurricula und Bildungsstandards. Der Stoff wird in den einzelnen Fächern auf jene wesentlichen Inhalte begrenzt, die durch die Bildungsstandards vorgegeben und die für die Einteilung in verschiedene Kompetenzniveaus unentbehrlich sind.

Bleibt die große Frage: Wie organisieren die von der CDU regierten Länder an den Tagen mit einem unvermeidlichen Nachmittagsunterricht eine geregelte Mittagspause? Ein Mensabetrieb und ein gemeinsames, von Lehrern beaufsichtigtes Mittagessen ist das Mindeste, wenn man nicht gleich zum flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen übergehen will. Die Kultusministerkonferenz hatte bei ihrem G8-Beschluss im März eine generelle Empfehlung für den Ganztagsschulbetrieb ängstlich vermieden. Denn besonders die CDU/CSU-Bastionen im Süden Deutschlands pflegen immer noch den Glauben an die heile Familie, in der sich die Eltern zu Hause vom Mittagessen an um die Kinder kümmern.

Baden-Württemberg hilft sich mit Alternativen für jeden Wunsch: In den Klassen fünf bis zehn sollen die G8- Gymnasien jeweils mit 32 Wochenstunden auskommen. Auf diese Weise würde nur ein einziger Nachmittag in der Woche mit Unterricht belastet. In der Oberstufe der 11. und 12. Klasse dagegen werden 34 Wochenstunden verlangt. Das erfordert zwei Tage mit Nachmittagsunterricht.

In Bayern gilt inzwischen zwar die Regel: An jedem Standort mit dem Turbo-Abitur muss ein Mittagessen geboten werden. In der fünften Klasse will man für die gerade in die Gymnasien gewechselten Schüler jedoch auf den Nachmittagsunterricht völlig verzichten, indem man das Pflichtprogramm auf 30 Stunden pro Woche begrenzt. In den sechsten Klassen bietet man an einem Tag in der Woche den Nachmittagsunterricht an.

Von der siebten bis zur 12. Klasse wird es dann ernst: 34 Wochenstunden erfordern an mindestens zwei Tagen den Nachmittagsunterricht. Bayern besteht jedoch darauf, dass in der Mittel- und Oberstufe zwei Nachmittage in der Woche frei gehalten werden sollen, damit die Jugendlichen ihren Hobbys nachgehen können. Für Bayern hat die Pflege der Vereinstätigkeit weiterhin einen hohen Stellenwert.

Gleichzeitig aber wagen sich Bayern und Baden-Württemberg auch auf das Feld der Ganztagsschulen. In Bayern gibt es inzwischen offene Ganztagsangebote an 800 allgemeinbildenden Schulen und 170 Gymnasien. Baden-Württemberg setzt sogar offensiv auf Ganztagsangebote. Das von Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) mit vier Milliarden Euro im Jahr 2002 angestoßene Ganztagsschulprogramm läuft im Jahr 2009 aus. Baden-Württemberg hat schon 2006 ein eigenes Programm aufgelegt, das mit einer Milliarde Euro ausgestattet ist. 450 Millionen Euro gibt das Land, 550 Millionen Euro müssen die Städte und Gemeinden aufbringen. Das Programm läuft über neun Jahre.

Ganztagsschulen sollen sich dort konzentrieren, wo eine besondere pädagogische Förderung notwendig ist und wo es soziale Probleme erfordern. Daher gibt es mehr Ganztagsschulen im Bereich der Grund- und Hauptschulen. Aber jetzt werden auch Gymnasien verstärkt in das Ganztagsschulprogramm aufgenommen. Ziel ist es, 40 Prozent der Schulen bis zum Jahr 2014/15 eine Ganztagsbetreuung anzubieten. Gedacht ist an eine flächendeckende Versorgung; wobei flächendeckend in dem Sinne verstanden wird, dass in zumutbarer Entfernung ein Ganztagsangebot existiert.

Auch die CDU/FDP-Regierung von Nordrhein-Westfalen hat im April 2008 eine Offensive für ein „flächendeckendes Angebot“ an Ganztagsschulen gestartet. Während bisher vor allem Grund- und Hauptschulen in NRW in Ganztagsschulen umgewandelt wurden, zielt das neue Programm auf „Ganztagsrealschulen“ und „Ganztagsgymnasien“. Pro Kreis soll je eine solche Schule eingerichtet werden. Da in Nordrhein-Westfalen 54 Kreise und kreisfreie Städte existieren, ergibt sich folgende Planungszahl: Pro Jahr sollen 108 Schulen in den Jahren 2009 und 2010 zu Ganztagsschulen werden. In demselben Zeitraum sollen mehr Realschulen und Gymnasien für die Mittagsbetreuung Mensen und Aufenthaltsräume erhalten. Dafür werden 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.

Auch das von der CDU und FDP regierte Niedersachsen setzt jetzt stärker auf Ganztagsschulen. Im Jahr 2003 gab es nur 150 Schulen mit einem Ganztagsangebot. Inzwischen sind es 670.

Wie in Hessen gibt es auch in Schleswig-Holstein einen verkürzten Weg zum Abitur nach dem Muster G8 – und einen längeren Weg. Gesamtschulen und die neuen Gemeinschaftsschulen bleiben bei neun Jahren bis zur Hochschulreife. Wer über Realschulen und Fachgymnasien das Abitur erreichen will, muss sich ebenfalls auf das G9-Abitur einstellen. Das hat die Große Koalition in Kiel so beschlossen.

In den neuen Ländern ist die verkürzte Schulzeit bis zum Abitur kein Problem. Schon die erweiterte polytechnische Oberschule schloss am Ende der 12. Klasse mit dem Abitur ab. Sachsen und Thüringen hielten nach der Wende kompromisslos an der verkürzten Schulzeit bis zum Abitur fest. Die anderen neuen Länder haben inzwischen die Verkürzung auf G8 übernommen – offenbar ohne Schwierigkeiten.

In Berlin hat die Senatsverwaltung für Bildung durchaus anerkannt, dass es Schwierigkeiten mit G 8 gibt. Seit Februar tagt eine Arbeitsgruppe, die Modelle für den Ganztagsbetrieb entwickeln soll. Bislang hat sie kein Ergebnis vorgelegt.

Uwe Schlicht

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