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Bleibendes Gewicht. Die künftige Definition für das Kilogramm soll sich von einer bestimmten Zahl von Atomen ableiten. Foto: p-a/dpa

© picture-alliance / Helga Lade Fo

Thema Maßeinheiten: Das Ende des Ur-Kilos

Physiker suchen eine solide Grundlage für Maße und Gewichte auf der Basis von Naturkonstanten. Das bislang genutzte Eichsystem birgt erstaunliche Ungenauigkeiten.

1000 Tonnen Rohöl sollten eigentlich 1000 Tonnen Rohöl bleiben. Doch vor 100 Jahren waren sie ein Gramm schwerer als heute. Denn das Kilogramm selbst hat sich verändert. Genauer gesagt das Urkilogramm, ein wohlgehüteter Zylinder aus einer Platin-Iridium-Legierung im Internationalen Büro für Maß und Gewicht in Paris, das als Vergleichsmaß für jede Waage der Welt fungiert.

„Urkilo" das klingt eigentlich nach Unveränderlichkeit. Doch die verkörperte Definition des Kilogramms wird alle 100 Jahre um 50 Millionstel Gramm leichter. Warum, das wissen nicht einmal die Physiker, die sich mit dem Massenschwund des Urkilos befassen.

Eine der sieben Basiseinheiten des Internationalen Einheitensystems, ohne das der weltweite Handelsverkehr unmöglich wäre, ist nicht konstant. Das ist für Physiker ungefähr so solide wie Laufen auf Treibsand. Statt eines Metallklotzes in Paris soll deshalb eine neue Definition des Kilogramms her. Eine, die konstant bleibt und überall auf der Welt durch Laborexperimente, also quasi nach Rezept, überprüft werden kann. Dadurch könnte sich jedes nationale Metrologie-Institut das Kilogramm selbst herstellen, in Deutschland etwa die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. Als unveränderliche Basis für die Kilo-Definition wollen Metrologen eine Naturkonstante verwenden: die Avogadro-Konstante, also die Anzahl von Teilchen in einem Mol.

Damit folgt das Kilogramm einem Trend in der Physik, der auf Max Planck zurückgeht. Er forderte bereits vor mehr als 100 Jahren, alle Basiseinheiten auf Naturkonstanten zu stützen. Außer dem Kilogramm haben die übrigen Basiseinheiten die Erneuerung ihres Fundaments bereits hinter sich.

DAS METER

Inzwischen sind die Physiker richtig zufrieden mit der Definition des Meters, denn sie beruht auf einer Naturkonstante. Das war nicht immer so. Wie das Kilogramm hatte auch das Meter bis 1960 eine Verkörperung in Paris, das Urmeter, ein Stab aus einer Platin-Iridium-Legierung. Schon für die damalige Messung war das Urmeter aber zu ungenau. Daher beschloss man 1983 auf einer Konferenz über Maße und Gewichte eine Neudefinition. Diese bezog sich auf ein Naturphänomen, die Strahlung einer bestimmten Atomart. Ein Meter, das war fortan das 161 650 763,73-fache der Wellenlänge der Strahlung, die ein Krypton-86-Atom aussendet, wenn es zwischen zwei ganz bestimmten Energiezuständen wechselt. Die Wegstrecke, die ein solcher Strahl zurücklegt, kann sehr genau bestimmt werden. Doch damit gaben sich die Physiker nicht zufrieden, sie wollten das Meter auf eine Naturkonstante beziehen. Seit 1983 ist das die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum. Das Meter ist demnach die Länge der Strecke, die Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299 792 458 Sekunden durchläuft. Um das Meter zu realisieren, messen Physiker die Laufzeit von Laserstrahlen.

DIE SEKUNDE

Dass das Meter auf die Sekunde gestützt wird, hat einen Grund. Die Zeit lässt sich mit Atomuhren höchst präzise messen. In der Atomuhr „CS2“ der PTB absorbieren Cäsiumatome Mikrowellenstrahlung einer ganz bestimmten Frequenz. Wenn die Mikrowelle 9 192 631 770 Schwingungen vollzogen hat, dann ist laut Definition exakt eine Sekunde vergangen. Die Sekunde wird also definiert als die Zeit, die vergeht, bis eine ganz bestimmte Mikrowelle eine bestimmte Anzahl von Schwingungen hinter sich gebracht hat. Das Ticken der Braunschweiger Atomuhr „CS2“ bestimmt den Takt des Lebens in Deutschland. Mit Funksendern wird es über das ganze Land verbreitet.

DAS AMPERE

Nicht ganz so glücklich wie mit Meter und Sekunde sind Physiker mit ihrer Einheit für die Stromstärke, dem Ampere. Zwar gibt es kein Urampere in Paris, wie sollte dieses auch aussehen? Aber die Definition des Ampere ist reichlich theoretisch. Sie basiert auf dem Phänomen, dass ein stromdurchflossener Leiter ein Magnetfeld um sich herum erzeugt und sich daher zwei parallele Leiter voneinander abstoßen. Laut Definition ist ein Ampere der Strom, der in zwei unendlich langen, einen Meter voneinander entfernten parallelen Leitern pro Meter Länge eine bestimmte Kraft hervorruft. Derzeit arbeiten PTB-Forscher daran, das Ampere auf eine Naturkonstante zu beziehen, nämlich die Elementarladung.

Sie wollen die Stromstärke durch die Anzahl der Elektronen definieren, die pro Sekunde eine Grenzfläche durchdringen. Ein Ampere wären dann 624 Billiarden Elektronen pro Sekunde. Mit einer Art Drehtür für Elektronen ermöglichen es PTB-Physiker, Strom auf Basis dieser Definition zu generieren: An die Engstelle einer dünnen Halbleiterschicht legen sie eine Wechselspannung. Jeder Spannungsimpuls schiebt genau ein Elektron durch den Engpass. Durch Variieren der Frequenz lässt sich die Zahl der Elektronen, die pro Sekunde passieren genau einstellen: bei zehn Millionen kommt es zu etwa einer Fehlzählung.

DAS KELVIN

Auch bei der Definition des Maßes für die absolute Temperatur, dem Kelvin, sehen Wissenschaftler noch Verbesserungsbedarf. Heute ist das Kelvin der 273,16te Teil der absoluten Temperatur des Tripelpunktes des Wassers. Bei einer Temperatur von 273,16 Grad Kelvin oder 0,01 Grad Celsius liegt Wasser in allen drei Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig gleichzeitig vor. Zwar lässt sich Wasser, das sich an seinem Tripelpunkt befindet, leicht herstellen und sich somit Thermometer leicht eichen. Dennoch sehen Physiker ein Problem bei der Kelvin-Definition. Sie bezieht sich auf eine zufällige Materialeigenschaft. Dadurch wird der Temperaturwert des Wasser-Tripelpunktes sozusagen willkürlich bevorzugt. In Zukunft soll daher auch das Kelvin auf eine Naturkonstante gestützt werden, nämlich die Boltzmann-Konstante. Multipliziert man die Temperatur mit dieser Größe ergibt sich die thermische Energie, eine Größe, die in vielen physikalischen Gleichungen vorkommt, also fundamental ist. Vorzug der Boltzmann-Konstante: sie lässt sich genau messen.

DAS CANDELA

Die Einheit, die die Stärke von Licht misst, bezieht sich auf die Leistung einer Lichtquelle, die grünes Licht der Wellenlänge 555 Nanometer (Millionstel Millimeter) abstrahlt. Ein Candela ist erreicht, wenn in einer Richtung 1/683 Watt pro Raumwinkeleinheit abstrahlt. Als einzige Einheit berücksichtigt das Candela die Wahrnehmung des Menschen. Dessen Auge reagiert auf unterschiedliche Farben unterschiedlich empfindlich. Licht anderer Wellenlängen ist ein Candela stark, wenn es vom menschlichen Auge genauso hell wahrgenommen wird wie Licht von 555 Nanometern Länge, für die das Auge am empfindlichsten ist.

DAS MOL

Bei der für Chemiker geschaffenen Einheit für die Stoffmenge, mit deren Hilfe sich die Zutaten für chemische Reaktionen exakt passend portionieren lassen, geht es ums Zählen. Ein Mol ist die Anzahl von Atomen in zwölf Gramm Kohlenstoff der Sorte C-12. (Bei dieser Kohlenstoffvariante hat jedes Atom genau zwölf Kernbausteine.) Diese Zahl hat 23 Stellen und wird als Avogadro-Konstante bezeichnet. Von dieser Konstante sind allerdings nur die ersten neun Stellen genau bekannt, beim Rest sind sich die Experten unsicher. Das soll sich, zumindest für einige Stellen, ändern. Deshalb entwickeln PTB-Forscher eine Methode, die Anzahl von Atomen in einem hochreinen Siliziumkristall möglichst genau zu bestimmen. Auf diese Weise wollen sie die Avogadro-Zahl präziser machen, was dann auch dem Mol zugute kommt.

Hier schließt sich der Kreis zum Kilogramm. Denn wie das Mol soll auch die Einheit der Masse auf die Avogadro-Konstante gestützt werden. Wenn die Atome in dem Silizium-Kristall exakt genug gezählt werden können, soll das Kilogramm als bestimmte Anzahl oder eine bestimmte Stoffmenge (Mol) von Siliziumatomen definiert werden. Tausend Tonnen Rohöl blieben dann ein für alle Mal tausend Tonnen Rohöl.

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