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Türkei: Kampf der Eliten

Den Unis der Türkei täte die Öffnung gut. Doch verschiedene politische Kräfte ringen um Einfluss.

Vor kurzem war es wieder so weit. Mitte August gaben die türkischen Behörden die Ergebnisse des Einstufungstests ÖSS bekannt – eine alljährliche Prüfung, die darüber entscheidet, welcher Schüler an die Universität darf und welcher nicht. Hunderttausende Familien in der Türkei fiebern jedes Jahr diesem Moment entgegen. Von den Resultaten hängt oft genug ab, ob sich zumindest ein Sohn oder eine Tochter Hoffnungen auf einen gut bezahlten Job beim Staat oder in der Wirtschaft machen kann.

Je nach Punktzahl beim ÖSS kann sich ein erfolgreicher Kandidat aussuchen, welche Hochschule er besuchen will. Doch ob er da auch eine gute Ausbildung erhält, steht auf einem anderen Blatt. Die jüngere Geschichte der Türkei und die Spannungen zwischen der islamisch geprägten Regierung und ihren kemalistischen Gegnern haben die türkischen Universitäten in den Mittelpunkt eines politischen Streits gerückt. Notwendige Reformen des Hochschulsystems blieben deshalb bisher auf der Strecke.

Dabei sieht das türkische Hochschulwesen auf dem Papier nicht schlecht aus. Das Land hat 139 Universitäten. Zu 94 staatlichen Unis kommen 45 Stiftungshochschulen, von denen einige von den bedeutendsten Unternehmern des Landes finanziert werden. An einigen Hochschulen, wie etwa an der angesehenen staatlichen Bosporus-Universität in Istanbul, wird nicht auf Türkisch unterrichtet, sondern auf Englisch. Die Zahl der Hochschulen wächst ständig. Erst im Juni beschloss das Parlament die Gründung von sieben neuen Universitäten. Vor zwei Jahren wurden auf einen Schlag 17 Universitäten ins Leben gerufen.

Um rund drei Millionen Studenten kümmert sich ein Lehrkörper, der zu mehr als der Hälfte aus Frauen besteht. Während die 1,3 Millionen Studentinnen Fächer wie Zahnmedizin, Literaturwissenschaften oder Pädagogik bevorzugen, sind Ingenieurswissenschaften, Medizin und Kommunikationswissenschaften besonders bei Studenten beliebt. Der Bildungshaushalt der Türkei umfasst mit umgerechnet rund 13 Milliarden Euro etwa zehn Prozent des Gesamthaushalts des Staates. Die Militärs müssen mit weniger als sechs Prozent auskommen.

Auch die internationale Verflechtung der türkischen Hochschulen nimmt zu. Viele Unis vermitteln ihren Studenten Auslandssemester in Europa und den USA. Hinzu kommen politisch gewollte Vernetzungen: So wird die geplante Deutsch-Türkische Universität (DTU) in Istanbul von 22 deutschen Hochschulen unterstützt. Die im vergangenen Jahr von der deutschen und der türkischen Regierung beschlossene Universität soll voraussichtlich im kommenden Wintersemester starten und mittelfristig bis zu 5000 Studenten aufnehmen. Fünf Fakultäten sind geplant: Ingenieurs-, Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Rechts- und Geisteswissenschaften. Unterrichtssprache ist Deutsch.

Im westtürkischen Izmir soll ebenfalls eine deutsch-türkische Universität entstehen. Der frühere Chef des Essener Zentrums für Türkeistudien, Faruk Sen, treibt das Projekt voran, das eine „Wissenschaftsbrücke zwischen der Türkei und Deutschland“ werden soll.

Das türkische Hochschulwesen kann diese Öffnung gut gebrauchen. Nach dem letzten Militärputsch von 1980, dem bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken auch an den Universitäten vorausgegangen waren, wurden die Hochschulen radikal entpolitisiert und einem zentralen Hochschulrat in Ankara unterstellt. Von einer Selbstverwaltung der Hochschulen kann keine Rede sein; Universitätsrektoren werden in der Türkei vom Staatspräsidenten ernannt. Vielfach sind die Unis sehr nationalistisch ausgerichtet.

Auch die Lehrinhalte leiden unter den Folgen des Putsches. Vielerorts wird immer noch vor allem auf altmodisches Pauken gesetzt. Dass Studenten eigene Gedanken oder Initiativen entwickeln, wird häufig weniger gern gesehen.

Eine Folge dieser Entwicklungen ist, dass die Forschung in der Türkei unterentwickelt ist. Der Unternehmerverband Tüsiad wies kürzlich darauf hin, dass in entwickelten westlichen Ländern etwa sechs Forscher auf tausend Einwohner kämen – in der Türkei nur zwei. Tüsiad fordert mehr Autonomie für die Hochschulen.

Nur in Ausnahmefällen gehen von den Unis wichtige Impulse aus. So veranstaltete die Istanbuler Bilgi-Universität vor einigen Jahren das erste Symposium, bei dem offen über den Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg gesprochen werden konnte; Nationalisten versuchten vergeblich, die Konferenz per Gerichtsentscheidung zu verhindern.

Trotz der Entpolitisierung der Hochschulen selbst tobt um die Universitäten ein politischer Machtkampf. Das zeigt sich auch am Thema Kopftuch. Obwohl zwei von drei Türkinnen ihr Haar verhüllen, sind Kopftücher an den Unis verboten. Fromme Eltern, die es sich leisten können, schicken ihre Töchter zum Studieren ausgerechnet in den christlichen Westen, wo sie mit ihrem Kopftuch in den Hörsaal dürfen. Erst im vergangenen Jahr scheiterte die fromm-konservative Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit dem Versuch, die Unis für Kopftuch-Studentinnen zu öffnen.

Der Kampf um die Unis, der auch ein Kampf um die Eliten von morgen ist, geht aber weiter. Die Erdogan-Regierung hat mit den Jahren einige ihrer Anhänger in jene Hochschulgremien schicken können, die früher von den Kemalisten dominiert wurden, säkularen Hardlinern, die im Aufstieg der frommen Anatolier unter Erdogan eine Gefahr sehen.

Die Personalveränderungen zeigen Wirkung. Kürzlich beschloss der Hochschulrat neue Zugangsverbesserungen für die Absolventen von Berufsschulen. Um die Abgänger der für die Ausbildung islamischer Geistlicher zuständigen „Imam-Hatip-Schulen“ aus den Unis und damit von hohen Posten fernzuhalten, hatte die Türkei Ende der neunziger Jahre unter dem Druck der Militärs den Uni-Zugang für alle Berufsschüler erschwert. Diese Entscheidung wurde nun aufgehoben. Erdogans Gegner kritisierten dies als Versuch einer Islamisierung und brachten die Entscheidung vor das Verfassungsgericht. Ein Urteil steht aus.

Ebenfalls hochpolitisch, aber weitaus weniger umstritten ist eine weitere Veränderung in der türkischen Hochschullandschaft. An einigen staatlichen Universitäten wird derzeit die Einrichtung von Lehrstühlen für kurdische Sprache und Literatur vorbereitet. Die geplanten neuen Institute sind Teil des Versuchs der Regierung, den Kurdenkonflikt friedlich beizulegen: Die Stärkung der Sprachfreiheit für die rund zwölf Millionen Kurden spielt dabei eine Schlüsselrolle.

Schon bei der Vorbereitung der Kurden-Institute zeigt sich, wie bedeutsam die Reform auch für die Wissenschaft sein kann. Dozenten an der Universität im südosttürkischen Mardin nehmen derzeit am ersten kurdischen Sprachkurs an einer staatlichen Institution der Türkei teil: Mit dem Kurs soll nicht nur die Einrichtung des dortigen Instituts für kurdische Sprache vorbereitet werden. Soziologen der Uni sollen mithilfe der neuen kurdischen Sprachkenntnisse künftig besser im Kurdengebiet forschen können.

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