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Muscheln mit Krebs. Ein seltener Blutkrebs infiziert Sandklaffmuscheln vor der Küste Nordamerikas.

© M. Metzger

Tumorerkrankungen: Übertragbarer Krebs bei Muscheln entdeckt

Infektiöse Tumore kennt man bisher nur bei wenigen Tierarten, zum Beispiel bei Hunden. Sie treten auch beim Mensch auf, dort sind sie aber extrem selten.

Auf den Fischmärkten in New York oder Boston gelten Sandklaffmuscheln als Delikatesse. Die bis zu 15 Zentimeter großen Muscheln stammen aus nordamerikanischen Küstengewässern. Doch die Bestände schrumpfen, denn die Weichtiere sind von einem mysteriösen, lebensbedrohlichen Blutkrebs befallen. Jetzt hat der Biologe Michael Metzger von der Columbia-Universität in New York mit seinem Forscherteam entdeckt, dass es sich dabei um Krebszellen handelt, die von Muschel zu Muschel überspringen – ein infektiöser Krebs.

Auch Muscheln, wie fast alle mehrzelligen Tiere, können an Krebs erkranken. Der leukämieartige Blutkrebs der Sandklaffmuscheln entstand durch spezielle DNS-Stücke, „Steamer“ genannt, die sich im Erbgut der Muschel wie Parasiten festsetzen und ausbreiten. Während eine normale Zelle zwei oder drei Steamer-Stücke im Erbgut hat, haben Krebszellen über 300 Kopien. Dadurch werden Gene zerstört oder verändert, so dass die Muschelzellen zu Krebs entarten

Die Muscheln waren von ein und demselben Krebsklon infiziert

Metzgers Team wurde stutzig, als es entdeckte, dass bei allen Krebszellen die Steamer-Stücke an den gleichen Stellen im Erbgut steckten. Daraufhin untersuchten sie das komplette Erbgut verschiedener Krebszellen, die aus Muscheln von teils weit entfernten Orten stammten. Und tatsächlich: Es war gleich oder ähnelte sich zumindest stark. Offenbar waren die Muscheln von ein und demselben Krebsklon infiziert.

Solch infektiösen Krebsformen gibt es im Tierreich nur bei zwei weiteren Arten. So wuchert das Sticker-Sarkom (Canine Transmissible Veneral Tumor, CTVT) bei Hunden einige Monate in den Schleimhäuten der Genitalien oder auch im Maul. Meist verschwindet es dann von selbst, doch vorher können die Zellen beim Geschlechtsverkehr oder durch Bisse auf andere Hunde übertragen werden.

Auch Hunde und Tasmanische Beutelteufel sind betroffen

Genanalysen zeigen, dass dieser Krebs vor etwa 11 000 Jahren bei einem ostasiatischen Hund oder Wolf entstanden sein muss. Inzwischen ist der Krebs bei Hunden in 90 Ländern der Welt nachgewiesen. Der zweite bekannte Fall ist ein Gesichtskrebs beim Tasmanischen Beutelteufel, der durch Bisse übertragen wird.  

In beiden Fällen ist ein direkter Kontakt zwischen den Tieren nötig. Der Muschelkrebs jedoch wird über das Seewasser übertragen. Über sechs Stunden können die Krebszellen im Wasser überleben, nachdem sie aus einer infizierten, sterbenden Muschel gespült werden. Da gesunde Muscheln mehrere Liter Seewasser pro Stunde filtrieren, gelangen sie wohl auf diesem Weg in einen neuen Wirt, in dem sie sich festsetzen können, vermuten die Forscher.

Dass die Sandklaffmuscheln unter diesem Krebs leiden, haben Biologen bereits in den 1970er Jahren entdeckt – ohne zu ahnen, dass er infektiös ist. Die Verbreitung über Hunderte von Kilometern entlang der nordamerikanischen Küste spricht dafür, dass die infektiösen Krebszellen vor mehr als 40 Jahre entstanden sein müssen, schreiben die Forscher im Fachblatt „Cell“.

Eine Angst vor dem Bad im Meer ist unbegründet

Bislang galt infektiöser Krebs bestenfalls als ein Kuriosum. Man vermutete irgendeine Besonderheit bei Hunden und Tasmanischen Teufeln, die es den Krebszellen ermöglicht, das Immunsystem von Artgenossen zu unterlaufen. Denn normalerweise werden fremde Zellen vom Immunsystem sicher erkannt und abgetötet. Dass das Phänomen nun auch bei einer so andersartigen Tiergattung wie den Weichtieren vorkommt, hält Harald zur Hausen, ehemaliger Direktor des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg, für Grund genug, intensiver nachzuforschen.

Angst vor einem Bad an der US-Küste sei jedoch unbegründet. Ein Überspringen der Muschelkrebszellen auf den Menschen über eine offene Wunde ist unmöglich, da das menschliche Immunsystem Zellen von Muscheln oder jedem anderen Tier als fremd erkennt und abtötet, sagt der Forscher, der 2008 den Nobelpreis für den Nachweis bekam, dass Infektionen mit Viren Krebs auslösen können.

Auch bei Menschen können Tumorzellen übertragen werden - aber nur sehr selten

Ein mit dem Sticker-Sarkom oder dem Muschelkrebs vergleichbarer Tumor, der das Immunsystem unterlaufen und von Mensch zu Mensch übertragbar wäre, sei nicht bekannt, sagt zur Hausen. Nur in Einzelfällen kann Krebs im Zuge von Transplantationen übertragen werden, weil die Körperabwehr des Organempfängers medikamentös unterdrückt wird.

Auch bei Aids-Kranken, bei denen das Immunsystem geschwächt ist, wäre ein Überspringen von Tumorzellen von Mensch zu Mensch möglich, sagt Robin Weiss vom University College in London, der das Sticker-Sarkom von Hunden untersucht. So können Prostatakrebszellen über Samen und Urin übertragen werden. Zwar sind das extrem seltene Fälle. Allerdings haben Forscher erst jetzt die Werkzeuge zum massenhaften Analysieren von Krebs-DNS zur Verfügung, um nach solchen Fällen suchen zu können. Was man bisher kennt, sagt Weiss, könne die „Spitze eines wenn auch vermutlich kleinen Eisbergs sein.“

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