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Walter Faber und seine Tochter Sabeth (S. Shepard, J. Delpy) in der Verfilmung des Romans „Homo faber“ von Max Frisch.

© imago/United Archives

Verbotene Liebe: Ethikrat: Sex unter erwachsenen Geschwistern soll nicht mehr strafbar sein

Der Deutsche Ethikrat will das Verbot von Inzest gelockert sehen - auch wenn man damit an ein "gesellschaftlich tief verankertes Tabu rührt".

Eine „Reise an den Rand des Möglichen“, so nennt Robert Musil im Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ die Liebe zwischen seinem Helden Ulrich und dessen Schwester Agathe. Die Geschwister werden letztlich kein Paar, sie bleiben „die Ungetrennten und nicht Vereinten“.

In Deutschland ist der Inzest (von lateinisch incastus, unkeusch) strafbar. Christiane Woopen, die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, äußerte jedoch gestern eine persönliche Hoffnung: „Nämlich die, dass so etwas Wunderschönes und Wertvolles wie die aufrichtige Liebe zwischen zwei Menschen, die keinen anderen Menschen tiefgreifend schädigt, in unserer Gesellschaft lebbar sein möge.“

Anlass war die Vorstellung einer Stellungnahme, in der die Mehrheit des Gremiums dem Gesetzgeber empfiehlt, den Paragrafen 173 des Strafgesetzbuches zu ändern. Einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen erwachsenen Geschwistern sollen nicht mehr strafbar sein, ebenso solche zwischen einem Geschwisterteil über 14 und seinem erwachsenen Geschwister, wenn beide hinreichend lange nicht mehr in einer Familie zusammenleben. Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind nicht Gegenstand der Stellungnahme.

Der Ethikrat hörte vom Inzestverbot betroffene Paare an

Man habe sich einem Thema gestellt, das „unmittelbar an ein gesellschaftlich tief verankertes Tabu rührt“, berichtete Woopen. Mit einer Expertenanhörung hatte dieser Prozess im Herbst 2012 begonnen, nachdem der Europäische Gerichtshof eine Beschwerde gegen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurückgewiesen hatte. Damit war festgestellt, dass der Paragraf 173 StGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Ob er sich ethisch rechtfertigen lässt und in einer aufgeklärten Gesellschaft Bestand haben sollte, war nicht geklärt.

Der Ethikrat reagierte mit der Bildung einer Arbeitsgruppe, die Gespräche mit betroffenen Halbgeschwister-Paaren ohne gemeinsame Kinder führte. „Ich war 18 Jahre alt, als ich erfuhr, dass ich noch einen Bruder habe“, erzählte eine der jungen Frauen. Sie lernte diesen Halbbruder kennen und lieben. „Immer wieder diese Gedanken, es darf nicht sein. Wir dürfen es nicht.“ Trotzdem begannen die Halbgeschwister eine Liebesbeziehung. Und mussten sie aus Angst vor Strafe weitgehend geheim halten.

Diese und andere Lebensgeschichten hätten ihn tief berührt und nachdenklich gemacht, berichtete nun der Psychologe Michael Wunder, Leiter der Arbeitsgruppe Inzestverbot des Ethikrates. Für ihn und für eine Mehrheit des Ethikrates ist das Strafrecht nicht geeignet, ein Tabu zu schützen. Einvernehmliche Beziehungen unter Androhung von Strafe zu verbieten, bedeute einen tiefen Einschnitt in die sexuelle Selbstbestimmung.

Ethikrat: Wer mit dem genetischen Risiko argumentiert, betreibt Eugenik

Eines der vier Argumente, die traditionell für eine Bestrafung der „Blutschande“ vorgebracht werden, lehnen die Mitglieder des Ethikrates geschlossen ab: dass damit die Gefahr steige, erblich belastete Kinder zu zeugen. Und das nicht nur unter Hinweis auf die Möglichkeiten zu sicherer Empfängnisverhütung und individueller humangenetischer Beratung, sondern aus grundsätzlichen Erwägungen: „Mit dem erhöhten genetischen Risiko, das keiner leugnen kann, ein Zeugungsverbot zu begründen, bedeutet einen Rückfall in eugenische Denkmuster“, sagte Winter.

Die Sorge, ein gesellschaftliches Tabu könnte dahinschwinden, sei ebenfalls kein Grund, das Strafrecht in Stellung zu bringen. Und sie sei unbegründet, wie Erfahrungen aus Frankreich, Spanien, den Beneluxländern oder Brasilien zeigten, wo der einvernehmliche Inzest zwischen Geschwistern nicht strafbar, aber auch nicht häufiger ist. Eine Ehe dürfen die Paare auch dort nicht schließen. Den Schutz vor Zwang zu sexuellen Handlungen, auch vor dem subtilen Druck vonseiten eines überlegenen älteren Bruders gegenüber seiner Schwester, sieht die Mehrheit des Ethikrates durch andere Paragrafen des Sexualstrafrechts gesichert.

Nicht alle Mitglieder des Ethikrats sind für eine Lockerung

Kernargument für ein Inzestverbot ist aus Sicht des Ethikrates der Schutz der Familie. Ist ihre Struktur konkret bedroht, weil es ein Durcheinander der Rollen gibt, dann sollten alle Formen sexueller Beziehungen verboten sein. „Allerdings müssen tatsächlich gelebte Familienverbünde vorhanden sein, um geschädigt werden zu können, das Strafrecht darf aber nicht zum Schutz von Abstracta eingesetzt werden“, gibt Winter zu bedenken. Völlig abstrakt werden Familienbande, wo Erwachsene entdecken, dass sie denselben Samenspender zum biologischen Vater haben und folglich Halbgeschwister sind.

Eine Minderheit von neun Mitgliedern betrachtet das Votum für eine Änderung des Strafrechts nach den Worten des Juristen Wolfram Höfling als „irritierendes Signal“. Das Inzestverbot diene dem Schutz unterschiedlicher Rollen im Familienverbund. „Es geht um das hochfragile Verhältnis von Distanz und Nähe.“ Man verkenne allerdings nicht, dass durch das Verbot immer wieder tragische Lebenssituationen entstünden. „Eine Möglichkeit besteht darin, auf eine Anklage zu verzichten oder das Gerichtsverfahren einzustellen.“

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