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Erleuchtet. In der Anna-Amalia-Bibliothek Weimar befinden sich die Manuskripte Goethes und Schillers.

© dpa

Verbund von Marbach, Weimar und Wolfenbüttel: Plattform für das nationale Gedächtnis

Die großen kulturwissenschaftlichen Forschungsbibliotheken in Marbach, Weimar und Wolfenbüttel verwahren das nationale Gedächtnis vom Mittelalter bis zur Moderne. Mit Hilfe des Bundes wollen sie sich jetzt vernetzen.

Nicht selten liegen die Zentren des Geistes in der Provinz. Das ist so im Fall der herausragenden kulturwissenschaftlichen Forschungsbibliotheken, die unser Land vorzuweisen hat. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach a.N., die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar und die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel befinden sich in ausreichendem Sicherheitsabstand von den Ablenkungen des modernen Großstadtlebens. Hier, fernab urbaner Nervosität, gedeiht ein intellektuelles Klima, das Versenkung und Konzentration fördert.

Wer im Marbacher Archiv forscht, blickt auf das Neckartal, das Schillers Geburtsstadt säumt. In der Weimarer Bibliothek darf man sich im Rokokosaal hinter komfortablen Mauern als Zeitgenosse Goethes fühlen. In Wolfenbüttel studiert man in rustikalen Leseräumen neben der prächtigen Augusta die barocken Buchbestände. An allen drei Orten herrscht die Ruhe klösterlicher Oasen, die Zeiten, Stile und Epochen wie vor einem Meerespanorama auftreten lassen. Die Erleuchtungen des Geistes, die dem Forscher bei der Lektüre zuteil werden, stellen sich leichter ein, wenn das Leben am Rande kleinstädtisch-ruhig dahinplätschert.

Die drei Bibliotheken verfügen über Schätze ungewöhnlicher Vielfalt. In Wolfenbüttel lagern mittelalterliche Handschriften, frühe Drucke – sogenannte Inkunabeln –, 3 000 Bibeln und prachtvolle Ausgaben des emblematischen Zeitalters, wie Herder das 16. Jahrhundert taufte. In Weimar finden sich seit 1889 die wichtigsten Manuskripte Goethes und Schillers, bedeutende Kunstschätze der Klassik, aber auch Flugschriften der Reformationszeit, Stammbücher, historische Landkarten und die weltweit umfangreichste Textsammlung zum Faust-Stoff.

Marbach hält Manuskripte, Drucke und Autorenbibliotheken bereit, zahlreiche Zeitschriften und Einzelautografen: die großen Manuskripte der deutschen Literatur seit der klassischen Epoche, mit einem Schwerpunkt in der Moderne. Weimar und Wolfenbüttel verwahren jeweils rund eine Million Exponate, in Marbach liegt der Bestand sogar deutlich darüber. Keine Frage, in diesen drei Bibliotheken kann man die Kulturgeschichte unseres Landes so quellennah wie nirgends sonst erkunden.

Der Wissenschaftsrat empfiehlt, die Schätze besser zu erschließen

Schon heute sind Marbach, Weimar und Wolfenbüttel bedeutende Ortes des nationalen Gedächtnisses – und zugleich modernste Forschungsplattformen. Größere Teile des handschriftlichen Bestandes sind digitalisiert. Die Nutzer können sie online nach Stichwörtern und Motiven durchsuchen, ohne die Lesesäle selbst betreten zu müssen. Die großen Bibliotheken sind so zugleich Orte der Virtualität.

Und obwohl man mit dem Erreichten zufrieden sein könnte: Die Reise geht weiter. In Zukunft wollen die drei Einrichtungen sie gemeinsam unternehmen, im Rahmen eines Forschungsverbunds, den das Bundesforschungsministerium fördern könnte, sofern die Voraussetzungen stimmen. Ein Impuls für diese Initiative ging vom Wissenschaftsrat aus, der den Standorten in den letzten Jahren überwiegend herausragende Noten gab. Vorgeschlagen wurde, die Kooperation zwischen den Bibliotheken zu stärken, um die Schätze durch übergreifende Forschungsaktivitäten noch wirkungsvoller zu erschließen.

Viele Themen könnten im Verbund der drei Bibliotheken bearbeitet werden. So bietet es sich an, die literarischen Schwerpunktgebiete in ein produktives Verhältnis zu den Kunstschätzen zu bringen, die an allen Standorten gesammelt werden. Die Dichter-Bibliotheken, die in Marbach, punktuell auch in Weimar und Wolfenbüttel stehen, bilden ebenso wichtige Forschungsobjekte wie die Autorenporträts und die Handschriften.

Jeder der drei Standort vermittelt ein besonderes Bild des nationalen Erbes

Nicht zuletzt könnten Fragen der literarischen Wertung, der Kanonbildung und des kulturellen Gedächtnisses ins Zentrum rücken. Jeder der drei Standorte vermittelt ein besonderes Bild unseres nationalen Kulturerbes: Wolfenbüttel, wo Lessing einst als Bibliotheksdirektor amtierte, zeigt das reiche und keineswegs dunkle Mittelalter, die Luther-Zeit und das Barock; Weimar dokumentiert Klassik und Romantik; Marbach erschließt vorwiegend Spätromantik und Moderne. Wer sich mit Mustern und Wirkungen dieses Kanons befassen möchte, kommt an den drei Standorten nicht vorbei. Umso sinnvoller wäre es, wenn sie sich zu einem Groß-Projekt zusammenfänden.

Das Vorhaben eines Forschungsverbunds, der die drei Bibliotheken zu einem System kommunizierender Röhren werden ließe, verfolgt mehrere Ziele. Erstens geht es um eine Verbesserung der Bestandsnutzung durch den Aufbau von gemeinsamen Plattformen, auf denen die Sammlungen leichter verfügbar sind. Das verknüpft sich mit der Entwicklung von Infrastrukturen für die Datennutzung, mit abgestimmten Prozessen der Digitalisierung von Handschriften und Maßnahmen der Langzeitspeicherung alternder Bibliotheksschätze.

Bibliotheken und Unis könnten Forschergruppen bilden

Zweitens strebt der geplante Verbund eine intensivierte Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an. Schon jetzt bieten die drei Einrichtungen vielfältige Möglichkeiten für Studierende und Doktoranden, die mit Stipendienprogrammen und Sommerschulen an die Bestände herangeführt werden können – ein Angebot, das ausgebaut werden sollte. Drittens kann ein Verbund die Zusammenarbeit mit den Universitäten vorantreiben, indem er gemeinsame Initiativen für Doktorandenprogramme und Forschergruppen anstößt. Was für die Naturwissenschaften mittlerweile selbstverständlich ist, sollte auch in den Geisteswissenschaften möglich sein: die Kooperation von Hochschulen und außeruniversitärer Spitzenforschung.

Die Exzellenzinitiave hat hier als wichtiger Katalysator gewirkt, indem sie Konzepte für die Kooperation prämierte und Zukunftsstrategien auszeichnete.

Viertens dürfte die hohe internationale Reputation der drei Bibliotheken weiter gesteigert werden. Als Orte geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung können sie in einer Koalition der Interessen, die ihre Profile nicht verwischt, sondern stärker ausprägt, zusätzliches Ansehen gewinnen. Nicht zuletzt würde es dem Bund ermöglicht, jenseits der Restriktionen des Grundgesetzes in regionale Forschungsexzellenz zu investieren.

Marbach, Weimar und Wolfenbüttel sind nur scheinbar Provinz; in Wirklichkeit bilden sie wahre Metropolen des Geistes, Giganten der Forschung. Sie werden in Zukunft noch stärker sein, indem sie gemeinsam agieren.

Der Autor ist Germanist, Präsident der Freien Universität sowie der Deutschen Schillergesellschaft, des Trägervereins des Deutschen Literaturarchivs Marbach.

Peter-André Alt

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