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Bedroht. Der Bienenfresser galt in Deutschland lange als ausgestorben, inzwischen ist er in Teilen von Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg wieder heimisch.

© Ernst Weber

Vogelkunde: Die Nachtigall singt in Berlin

Bevor „citizen science“ ein Schlagwort wurde, beobachteten bereits unzählige Laien die Vogelwelt. Sie räumen mit Vorurteilen über den Moloch Stadt und das „grüne“ Land auf. Plädoyer eines Biologen.

Eine Schande, seine Zeit derart zu vergeuden! Ende der 1950er Jahre, ich war gerade 13 Jahre alt, hatten weder meine Eltern noch meine Freunde Verständnis dafür, dass ich zum Vogelkundler wurde. Aber die ersten Seidenreiher, die ich an den Lagunen am Inn in Niederbayern sah, faszinierten mich. Kein noch so schlechtes Wetter konnte mich fortan davon abhalten, „auf Exkursion zu gehen“. So nannte ich meine Beobachtungsgänge, um für mich und für andere klarzustellen, dass sie ernst gemeint waren. Auch wenn die Ferngläser noch sehr teuer und schlecht waren, und die Bestimmungsbücher unzureichend.

Was damals als Spinnerei belächelt wurde, gilt heute als „citizen science“. Die Aufzeichnungen der Hobby-Ornithologen sind ein Schatz. Sie dokumentieren ganz nebenbei, ob sich die Umwelt zum Guten oder Schlechten verändert.

Meine erste Notiz galt zum Beispiel einer Vogelart, an deren Bestimmung ich mit meinem Büchlein „Was fliegt denn da?“ scheiterte. Es waren Türkentauben, wie ich bald erfuhr. Damals breitete sich diese Taubenart gerade vom Balkan her nordwestwärts über Europa aus. Dank meiner Einträge kann ich heute noch genau verfolgen, wie sie das niederbayerische Inntal besiedelte. Und ich kann nachvollziehen, warum: In jenen Jahren begann dort der Maisanbau, der die meisten Felder seither in „Maiswüsten“ verwandelt. Den Türkentauben war das nur recht. Sie sammelten sich im Herbst an den Trocknungsanlagen für die Maiskörner und schlugen sich die Bäuche voll.

Am spannendsten war aber das Beobachten draußen am Fluss. Der Inn ist in eine Kette von Staustufen gegliedert. Zwei davon wurden während des Zweiten Weltkriegs gebaut. Damals ging es darum, möglichst schnell Strom aus Wasserkraft zu erzeugen, um Aluminium für den Bau von Kampfflugzeugen herzustellen. Dabei verzichteten die Ingenieure so weit es ging auf Dämme, wie dies nach dem Krieg beim Bau von Stauseen üblich wurde. Der vorher schon mehr als ein halbes Jahrhundert lang begradigte, von seinen Auen getrennte Inn konnte nun in den weitläufigen, durch natürliche Ufer begrenzten Stauräumen neue Inseln, Seitenarme und Flachwasserzonen ausbilden. Er renaturierte sich selbst.

Wer genau hinschaut, kann über die Eigenschaften der Vögel nur staunen

Natürlich zog dies Wasservögel von nah und fern an und ich bekam eine neue Herausforderung. Mit einem miserablen Fernrohr mit 20- bis 60-facher Vergrößerung versuchte ich, die Strand- und Wasserläufer zu bestimmen, die aus der arktischen Tundra geflogen kamen, eine Rast an den nahrungsreichen Stauseen einlegten und nach wenigen Tagen weiterzogen in die fernen Winterquartiere. Mit größter Begeisterung betrieb ich diese „Fernrohrjagd“ nach Raritäten. Und „entdeckte“ dabei Graubruststrandläufer aus Nordamerika, Brachschwalben aus Südeuropa, Raubmöwen aus der Arktis und Teichwasserläufer aus Vorderasien.

Wer diese Phase erreicht hat, wird kaum wieder davon lassen können. Mit vielen Gleichgesinnten, den „Ornis“, wird man sich sodann mit „der Ornis“, der Vogelwelt, immer intensiver befassen, wird herumreisen, um seine Kenntnisse zu erweitern und die Liste der selbst gesehenen Arten verlängern.

Doch was macht die Vögel so faszinierend? Ihre Flugkünste gehören natürlich dazu. Der Vogelflug faszinierte die Menschen wahrscheinlich, seit sie zum Himmel aufblicken. Er diente den Alten als Orakel. Nicht immer zu Unrecht, denn wenn besondere Vögel oder außergewöhnliche Schwärme auftreten, hat das meist einen Grund. Sie können auf einen aufziehenden Sturm oder vordringende, große Kälte hindeuten. Das gilt bis heute, auch wenn wir dank einer Wettervorhersage, die wenigstens für die nächsten drei Tage einigermaßen zuverlässig ist, über die „Vogelschau“ der Alten lächeln.

Die Wanderfalken haben Berlin im Blick

Nach Vorzeichen süchtig sind die Menschen heute mehr denn je. Anstelle der alten Orakel nutzen sie aber beispielsweise Computermodelle. Dem Flug der Vögel zuzusehen gehört hingegen zu den Vergnügungen, die nicht mehr mit Ahnungen und Mahnungen verbunden sind. Sehen Sie den Wanderfalken zu, die über Berlin jagen und die Metropole im Blick halten! Oder was sich an den Türmen des Kölner Doms abspielt, wenn dort die Falken losfliegen! Und achten Sie gelegentlich auf die Enten auf den Seen und Teichen der Städte, auf die winzigen, gar nicht scheuen Zaunkönige, die durch die Hecken schlüpfen, oder auf die Meisen am Futterhäuschen.

Wer genau hinschaut, kann über die Eigenschaften der Vögel nur staunen. Wie bringen es die Enten fertig, mit bloßen Füßen im Winter auf dem Eis zu stehen, ohne dass ihnen die Zehen erfrieren? Wie übersteht ein nur fünf Gramm leichter Winzling wie der Zaunkönig die eisigen Winternächte? Warum kann sich eine Meise mit dem Rücken nach unten an den Fettknödel mit den Sonnenblumenkernen hängen, die Finken aber nicht?

Die Antworten überraschen fast noch mehr. Die Enten regulieren den Blutfluss in die Beine und Füße so, dass diese ein paar Grad über null „warm“ bleiben und auf dem Eis nicht anfrieren. Der kleine Zaunkönig hat, wie die meisten Singvögel, eine Körperinnentemperatur von 42 Grad. Für einen Menschen wäre das ein tödliches Fieber, die Vögel jedoch brauchen diese innere Wärme. Die Federn, die ihn umgeben, isolieren sie bestens gegen die äußere Kälte. 60 Grad Unterschied können dabei zustande kommen – bei der Größe eines Tischtennisballs! Aber sie brauchen viel Nahrung, um „nachzuheizen“; an sehr kalten Wintertagen fast so viel, wie sie selbst wiegen.

Ornis dokumentieren, wie sich die Vogelwelt verändert

Auch die Techniken, mit denen die Vögel ihre Nahrung suchen und bearbeiten, sind bewundernswert. Hunderte Meter tief tauchen Pinguine in den antarktischen Gewässern. Winzige Kolibris schießen im Schwirrflug vorwärts wie rückwärts, trinken Nektar im Flug und fangen in der Luft winzige Insekten.

Die Kaiserpinguine bebrüten ihr Ei in der schier unerträglichen Kälte der Polarnacht des Südpols auf den eigenen Füßen und überdecken es dabei mit einer Hautfalte des Unterbauches. Schwanzmeisen rücken bei uns nachts zu einer engen Schlafreihe zusammen, werden zu einer länglichen Federkugel, aus der nur noch die Schwänze herausragen. Die Kleinen sparen so Energie.

Ornis dokumentieren, wie sich die Vogelwelt verändert. Ihre Gemeinschaft tauscht die ermittelten Daten aus. Und so kennen sie sich mitunter besser aus als die für den Arten- und Naturschutz zuständigen Behörden. Ihre Netzwerke verfolgen das Geschehen in der Vogelwelt täglich, ja stündlich. Sie wissen, dass sich viele Vögel nicht an die Vorurteile halten, die über sie verbreitet werden.

Der „Moloch Großstadt“ ist für viele Vögel ein Refugium

Der „Moloch Großstadt“ zum Beispiel ist für Nachtigallen attraktiver als das „schöne grüne Land“. Sie haben Berlin zu ihrer Hauptstadt gemacht, mehr als 1000 Sänger leben im Stadtgebiet. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass man auf dem Land nicht mehr leben kann, weil dort die Agrarindustrie so intensiv wirtschaftet wie noch nie. Da bleibt kein Freiraum mehr für die Vögel, kein ungenutzter Randbereich. Die Fluren sind seit Jahrzehnten überdüngt. Pestizide und Herbizide vernichten die Nahrung der Kleinvögel. Nicht nur die Blumen fehlen deshalb.

Der Frühling ist leise geworden über den Fluren; vielerorts tatsächlich stumm. Die Feldlerchen ziehen es vor, auf Großflughäfen zu leben. Wo die metallenen Riesenvögel unablässig starten und landen, geht es ihnen besser als im Westen und im Süden, wo Mais das Land überzieht. Denn im Frühjahr sind diese Felder nackte Vollwüsten, im Sommer ein undurchdringlicher Dschungel. Aber noch immer wirkt das Klischee, dass das Land „gut“ sei, die Stadt hingegen „schlecht“. Die Vögel wissen es besser. Sie wählen ihre Lebensräume entsprechend aus. Die Ornis verstehen ihre Botschaft.

Dass eine Schwalbe keinen Sommer macht und ein milder Winter keine Katastrophe ist, sehen sie am Verhalten der Vögel. Weder sind ein paar verfrühte Ankömmlinge aus dem Winterquartier Alarmzeichen noch vereinzelte Zugvögel, die hier überwintert haben. Die Vögel sind nur flexibel, sie können sich auf eine veränderte Umwelt einstellen.

Das melancholische Lied der Goldammer ist bald Vergangenheit

Trotzdem: Wer sich näher mit der Vogelwelt beschäftigt, wird zwangsläufig auf den Zustand unserer Natur und die Belastungen aufmerksam, denen wir alle ausgesetzt sind. Muss es sein, dass die Städte vogelreicher sind als das Land? Wäre es nicht an der Zeit, die Jagd auf Vögel gänzlich zu verbieten, und nicht bloß den Südeuropäern ihren Vogelfang vorzuwerfen?

Seit Silberreiher und Seeadler nicht mehr gejagt werden dürfen, breiten sie sich wieder aus. Vielen Kleinvögeln geht es weiterhin sehr schlecht. Wo in der Landwirtschaft zu viel gedüngt wird, schießt das Grün zu schnell in die Höhe. Am Boden wird es dann kalt und feucht. Das Lied der Lerche verstummt. Vielerorts ist die Goldammer rar geworden, obwohl sie niemals Schäden verursachte. Ihr melancholisches Liedchen wird bald der Vergangenheit angehören. Wer es hören möchte, muss weit in den Osten fahren, wo noch bäuerliche Landwirtschaft betrieben wird.

Europaweit haben sich in den letzten 20 Jahren die Vogelbestände auf dem Land halbiert. In Deutschland ist der Rückgang noch dramatischer. Doch klagen allein nützt nichts. Die Naturschutzverbände müssten sich mit aller Kraft gegen die Entwicklungen auf dem Land stemmen.

Doch unsere Landwirtschaft wird weiterhin und immer stärker aus Steuermitteln der Allgemeinheit unterstützt. Dabei geht es längst nicht mehr um Nahrungsmittel, die wirklich gebraucht werden. Vielmehr werden teuere Überschüsse produziert. Unsere übermäßige Fleischproduktion ist für die Dritte Welt zur erdrückenden Konkurrenz geworden. So kann es nicht weitergehen.

Die amerikanische Autorin Rachel Carson veröffentlichte 1962 ein berühmtes Buch mit dem Titel „Stummer Frühling“. Sie beschrieb, welche verheerenden Auswirkungen es hat, wenn Pestizide wie DDT sogar in Vogelschutzgebieten versprüht werden. Die Vögel waren es damals, die mit ihrem Verschwinden den modernen Umweltschutz auf den Weg brachten. Die Politik musste reagieren, DDT wurde verboten.

Nun hat ein zweiter „stummer Frühling“ begonnen. Vielleicht führt er zu einem ähnlichen Umdenken wie der erste in den 1960er Jahren. Wir brauchen sie wieder, die Vögel. Um unsertwillen! Und viele neue Ornis, die als „citizen scientists“ präzise dokumentieren, was mit unserer Vogelwelt und der Natur geschieht.

- Josef Reichholf ist Evolutionsbiologe, Naturschützer und Honorarprofessor an der TU München. Von ihm ist jetzt das Buch „Ornis – Das Leben der Vögel“ erschienen (Verlag C.H.Beck, 272 Seiten, 19,95 Euro).

Josef Reichholf

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