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Der Kopf steht Kopf. Achterbahn im Europapark Rust.

© mauritius images

Was macht Achterbahnfahren mit uns?: Hirn auf Speed

Im Rausch der Geschwindigkeit: Unterschiedlichste Sinnesreize stürzen bei einer Achterbahnfahrt auf uns ein. Was macht das Gehirn daraus?

Beim ersten Mal schreit jeder. Der Körper wird in den Sitz gepresst. Das Hirn bereut, seinen Träger in diese Höllenmaschine manövriert zu haben, während es innerhalb von 2,5 Sekunden auf 100 Stundenkilometer beschleunigt wird. Den gleich darauf folgenden Looping bekommt das gestresste Organ gar nicht recht mit, hat es doch jeglichen Sinn für oben und unten verloren. Erst in der ersten Schraube hat es sich so weit erholt, dass es mit allen verfügbaren Warnsignalen reagiert – Adrenalin, Kortisol, Endorphin, das ganze Hormonregister. Doch anstatt mit Angst und Panik und Wimmern zu reagieren, kreischt das Doppel-Dutzend Passagiere im Zug der Achterbahn „BlueFire Megacoaster“ vor Freude.

Steilkurven, 100 Meter tiefe Abgründe

Freizeitparks sind Publikumsmagneten, Achterbahnen beliebte Attraktionen jedes Oktoberfests. Fünf Millionen Menschen besuchten 2014 allein den Europapark in Rust, den mit zwölf Achterbahnen größten Freizeitpark Europas, nach Disneyworld Paris. Kein Rummel mehr ohne Fahrgeschäfte für spaßige Nahtoderfahrungen. Bereitwillig zahlen die vergnügungssüchtigen Besucher saftige Eintrittspreise und warten oft stundenlang in endlosen Schlangen, um sich für selten mehr als ein oder zwei Minuten durchschütteln, in 100 Meter tiefe Abgründe stürzen und durch Steilkurven jagen zu lassen.

Während den Zahlen nach immer mehr Menschen den „Thrill“ genießen, wird anderen schon beim Zuschauen schlecht. Einen Achterbahn-Ritt würden sie genauso wenig wagen wie einen Bungeejump ohne Seil. Vernünftig, zweifelsohne. Doch was passiert im Gehirn, wenn der Mensch vom höchsten Punkt einer Achterbahn stürzt und extremen Beschleunigungen ausgesetzt wird? Und warum ist es für das eine Hirn ein Spaß, fürs andere aber eine Qual?

Das Hirn misst mit "Speed"-Zellen

Erst seit Kurzem wissen Forscher, wie das Gehirn Geschwindigkeit misst: mit „Speed“-Zellen, wie die norwegischen Hirnforscher und Medizinnobelpreisträger des letzten Jahres, May-Britt und Edvard Moser, mithilfe von Experimenten an Ratten entdeckt haben. Diese spezialisierten Nervenzellen gehören zu einem System im Hippocampus, das Orientierung im Raum ermöglicht. Sobald eine Ratte (oder ein Mensch) einen Raum betritt, legt das Gehirn eine Art Karte von der Umgebung an, die dann als Navigationshilfe benutzt wird, um von einem Ort zum anderen laufen zu können. Je nachdem, wo im Raum man sich befindet, senden andere Gruppen von Nervenzellen, die Gitternetzzellen – in der linken Ecke die einen, in der rechten andere. Außerdem gibt es Zellen, die das Gehirn über die Laufrichtung informieren. Sie messen die Ausrichtung des Kopfes, sodass dieser wie ein Kompass wirkt, sodass Norden immer der Nase nach liegt.

Doch ein Puzzleteil fehlte noch: Sobald sich Mensch oder Ratte von einem Ort zum anderen bewegen wollen, muss die Geschwindigkeit dieser Bewegung bekannt sein, um die aktuelle Position bestimmen zu können. Auf der Suche nach Zellen, die auf Beschleunigung reagieren, setzten die Forscher die Ratten in einen Laufwagen ohne Boden, dessen Geschwindigkeit und Beschleunigung sie kontrollieren konnten. Während das Tier im Wagen in verschiedenen Geschwindigkeiten spazierte, um am Ende mit Schokocornflakes belohnt zu werden, suchten die Forscher im Rattenhirn nach Zellen, deren Aktivität sich der Geschwindigkeit entsprechend ändert – und wurden fündig: 15 Prozent der Zellen in der Orientierung gebenden Hirnregion im Hippocampus sind demnach „Speed“-Zellen.

Die Explosion beginnt kurz vor dem Abgrund

„Wir haben mit den Ratten zwar keine Achterbahnexperimente gemacht“, sagt Emilio Kropff, der an dem Projekt in der Moser-Gruppe der Universität Oslo mitgearbeitet hat. Aber dennoch lasse sich aus den Ergebnissen einiges darüber sagen, was dabei im Hirn vor sich gehen dürfte. „Wenn die Geschwindigkeit plötzlich steigt, dann zeigen die Speed-Zellen einen dementsprechenden plötzlichen Anstieg der elektrischen Aktivität“, sagt Kropff. Diese Reaktion erfolgt genauso schnell und augenblicklich wie die Beschleunigung in der realen Welt – eher sogar noch schneller: „Wir haben beobachtet, dass die Speed-Zellen eine kommende Beschleunigung sogar um 100 Millisekunden vorausahnen“, sagt Kropff. „Das bedeutet, dass die Explosion neuronaler Aktivität bereits beginnt, kurz bevor man in den Abgrund stürzt.“

Für den Achterbahnfahrer fühlt es sich allerdings eher so an, also ob die Nervenzellen schon mehrere Minuten statt Millisekunden vor dem Sturz in den Abgrund verrückt spielen. Dieser Moment, wo sich der Waggon nach einer nervenaufreibend langsamen Bergfahrt gen Tal neigt, wo noch nichts passiert, aber die Erwartung des freien Falls die Zeit dehnt und aus Sekunden Minuten werden lässt. Dieser Moment, wo sich die Lunge mit Luft für den gleich folgenden Schrei aufpumpt, das Herz rast, die Muskeln sich anspannen und die steigenden Pegel von Adrenalin und Endorphin im Blut nutzlos verpuffen, weil der Fluchtimpuls hier oben, festgeschnallt im Sitz, eh keinen Sinn macht.

Angstreaktion entsteht im Mandelkern

Der Bereich im Hirn, in dem diese Angstreaktion entsteht, ist die Amygdala, der Mandelkern. Gleich daneben liegt der Hippocampus, wo die Reize für räumliche Orientierung und Beschleunigung verarbeitet werden. Beide sind miteinander verknüpft. „Wir wissen aber noch nicht, wie stark diese Verbindung ist“, sagt Kropff. Die meisten Orientierungsleistungen finden im oberen (dorsalen) Teil des Hippocampus und des Entorhinalen Cortex statt, während die Amygdala eher mit dem unteren Teil des Hippocampus verbunden ist.

Außer den Speed-Zellen gibt es noch drei andere Informationsquellen, mit denen Säugetiere ihre Geschwindigkeit bestimmen können. Das Gleichgewichtsorgan im Ohr hilft nicht nur, die Balance zu halten, sondern kann auch in gewissem Maße erkennen, wie schnell sich der Körper im Raum bewegt. Sensoren in den Muskeln senden Signale nicht nur in die Zentren zur Bewegungskontrolle im Hirnstamm, sondern auch in Kopie ans Navigationssystem – „wie das CC einer E-Mail“, sagt Kropff.

Außerdem wird die eigene Geschwindigkeit auch durch das, was die Augen sehen, abgeschätzt. „Dabei wird weniger darauf geachtet, was man sieht, als wie schnell sich das Gesehene relativ zu einem selbst bewegt“, sagt Kropff. Wie sehr das verwirren kann, lässt sich auf Bahnhöfen spüren. Im Zug sitzend kann das GPS-System im Kopf manchmal nicht gleich bestimmen, ob es nun die eigene Bahn ist, die losfährt, oder der Zug am Gleis gegenüber. Ähnlich verwirrende Signale erhält das Navigationssystem bei einer Achterbahnfahrt, bei der die Muskeln melden, dass der Körper sitzt, die Augen aber eindeutige Signale eines Höllenritts senden.

Wie aus Angst "Angstlust" wird

Wie diese drei Informationsquellen die Speed-Zellen beeinflussen, sei noch nicht untersucht, sagt Kropff. „Ich vermute, dass sie alle Einfluss nehmen.“ Mehrere Informationsquellen ermöglichen bessere Entscheidungen. Wenn sich die Reize aber wie in der Achterbahn widersprechen, kann das zu dem buchstäblichen Nervenkitzel führen. Das lässt sich mithilfe virtueller Realität untersuchen. Dabei wird Probanden ein Bildschirm vor die Augen gespannt und eine andere als die reale Umgebung vorgegaukelt. Das Gehirn muss dann die Informationen aus den Augen, zum Beispiel der Anblick eines Abgrunds, mit den Signalen der sensorischen Nervenzellen in Einklang bringen, laut denen der eigene Körper auf sicherem Laborbeton steht.

Welche Quellen das Gehirn bevorzugt

„Sowohl Menschen als auch Ratten sind in der Lage, jene räumlichen Signale zu bevorzugen, die ihnen als glaubhafter erscheinen, und jene zu unterdrücken, die mit dieser Interpretation des Raums in Konflikt stehen“, sagt Kropff. „Im Fall der Achterbahn bedeutet das, dass man sehr viel mehr Spaß hat, wenn man das räumliche Bezugssystem des Rummels wählt, denn dann bewegt man sich mit 200 Stundenkilometern.“

Hört man nur auf die Muskelreize und wählt als Bezugssystem den Platz im Waggon, sitzt man, relativ betrachtet, nur herum. Wie Menschen oder Ratten es anstellen, verschiedene Informationsquellen zu bevorzugen, sei jedoch noch ein Rätsel. Und es gelingt auch nicht jedem, denn viele meiden Achterbahnen und Kettenkarussell nicht aufgrund von Angst, sondern weil ihr Gleichgewichts- und Orientierungssinn überfordert ist und ihnen schlecht wird.

Die Beschleunigung zu spüren und das eigene Orientierungssystem mit Loopings, Steilkurven und plötzlichen Gefällen zu kitzeln, ist nur die halbe Erklärung, warum Achterbahnfahren vielen Spaß macht. Oder Angst. „Bei einer Achterbahnfahrt werden jene Hirnregionen aktiv, die auch bei einer Angstreaktion aktiviert werden“, sagt Andreas Ströhle, Leiter der Angstambulanz der Berliner Charité. Dazu gehört zunächst der Thalamus, eine Relaisstation der Wahrnehmung von Außenreizen, und dann die Amygdala. Von dort aus werden die Hirnstammzentren alarmiert, die die typischen körperlichen Angstreaktionen auslösen: Das Herz beginnt zu rasen, Atmung und Puls beschleunigen sich, die Schweißdrüsen springen an und die Körperhaare stellen sich auf. Auch das Schwindelgefühl kann mit dieser Angstreaktion zusammenhängen, könnte aber angesichts der rasenden Fahrt auch auf eine Überforderung des Gleichgewichtssinns zurückzuführen sein.

Reaktionen hängen von der Persönlichkeitsstruktur ab

Wie stark diese Reaktion ausfällt, hänge von der Persönlichkeitsstruktur ab. „Manche Menschen sind eher zugänglich für stimulierende Aktivitäten als andere“, sagt der Psychiater. „Bei einem Menschen, der Achterbahnfahrten als Gefahr empfindet, wird die Amygdala stärker aktiviert als bei demjenigen, der daran Spaß hat.“ Zwar bewertet das Gehirn die Achterbahnfahrt bei beiden Typen zunächst als gefährlich und löst die Angstreaktion aus, obwohl beide wissen, dass die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls gering ist. „Aber bei dem zurückhaltenden und vorsichtigen Typ gewinnt die Angstreaktion den inneren Konflikt.“

Beim Achterbahnliebhaber hingegen werden die Angstsignale der Amygdala umgedeutet, der Nervenkitzel wird zum Spaß. Wer diesen Kick, den Adrenalin-Rausch, immer wieder braucht, den bezeichnen Psychologen gar als „Typ T“-Persönlichkeit, die den „Thrill“, die „Angstlust“ sucht, sagt Psychologe Frank Farley von der Temple Universität: „Es gibt fast nichts, Sex eingeschlossen, was dem Körper ähnlich sensorische Erlebnisse bescheren kann.“

Angst mit Bier unterdrücken? Keine gute Idee

Aber nicht jeder empfindet so. Persönlichkeitsstrukturen sind bis zu einem gewissen Grad festgelegt und haben sogar eine genetische Komponente. Versuche, das zu ändern, oder die Angst mit ein paar Bier oder gar einer Beruhigungstablette zu unterdrücken, um gegenüber Freund oder Familie nicht als überängstlich dazustehen, hält Ströhle nicht für sinnvoll. Schließlich seien Achterbahnfahrten ja keine alltägliche Herausforderung, der man sich unbedingt stellen müsse. Als krankhaft werde eine Angst erst dann definiert, wenn sie einen Menschen so stark behindert, dass er seinen Alltag nicht mehr bewältigen kann, sagt Ströhle. „Aber manche Menschen empfinden es als Erfolg, wenn sie ihre eigenen Grenzen überschreiten und ihre Ängste überwinden.“ Die Belohnung nach dem Höllenritt, in Form von Endorphinen und anderen Glückshormonen, lohnt sich jedenfalls.

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