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WERT sachen: Fasten

Immer mehr Menschen entdecken aus verschiedensten Gründen den Wert des Fastens und verstehen darunter längst nicht nur Fisch am Freitag, sondern einen zeitweiligen, bewussten Verzicht auf etwas, auf das man scheinbar nur sehr schwer verzichten kann.

1906 meldete die „Vossische Zeitung“, der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche habe (übrigens unmittelbar vor der Fastenzeit) die Abschaffung der überkommenen strengen Fastenregeln gefordert – Fasten sei „eine überflüssige Einrichtung“ und werde ohnehin nur noch „in den niederen Klassen … streng beobachtet“. Und so interessierte das Thema Fasten lange Zeit nur noch die ungleiche Koalition von eifrigen Katholiken, strengen Muslimen und schuldbewussten Übergewichtigen. Ich erinnere mich noch genau an Freunde meiner Eltern, die sich Jahr für Jahr irgendwo in Österreich in einem Sanatorium zum Zwecke des Heilfastens einquartierten und dann den Rest des Jahres um den Erhalt des Idealgewichtes kämpften, auf das sie sich heruntergehungert hatten.

Eine ganz und gar religiös unmusikalische Nachbarin, die während meines Studiums fastete, hielt ich – wenn ich ehrlich sein darf – für ein wenig sonderbar. Schließlich hatten wir ja im neutestamentlichen Hörsaal gelernt, dass der Heiland von seinen Zeitgenossen als „Fresser und Weinsäufer“ tituliert wurde. „Jesus selbst scheint nicht gefastet zu haben“, heißt es im wissenschaftlichen Standardlexikon meines Faches zum Thema. Der Artikel stammt von einem schottischen Reformierten, der vermutlich selbst auch nicht fastet.

Seither hat sich viel geändert. Immer mehr Menschen entdecken aus verschiedensten Gründen den Wert des Fastens und verstehen darunter längst nicht nur Fisch am Freitag, sondern einen zeitweiligen, bewussten Verzicht auf etwas, auf das man scheinbar nur sehr schwer verzichten kann. Wenn man aber so freiwillig verzichtet, wird Erkenntnis befördert, wie es bei einem antiken syrischen Mönch heißt. Zum Beispiel die schlichte Erkenntnis, dass weniger oft mehr ist, Verzicht nicht nur den Magen, sondern auch den Kopf freiräumt und neben dem körperlichen Völlegefühl auch eine Empfindung geistiger Übersättigung fortzuschaffen vermag. Rund 20 Prozent der deutschen Bevölkerung beteiligen sich in diesem Jahr an irgendwelchen Fastenaktionen.

Fasten hat nichts mit Geiz zu tun – und deswegen hat die evangelische Fastenaktion „Sieben Wochen ohne“, die 1983 unter anderem von einigen Hamburger Journalisten ins Leben gerufen wurde, in diesem Jahr das Motto „Sieben Wochen ohne Geiz“ und ist scheinbar ein wenig gewagt mit dem Wort „Verschwendung“ überschrieben. Aber den Veranstaltern geht es selbstverständlich nicht darum, in der Fastenzeit zu irgendwelchen Kneipenexzessen zu ermuntern. Vielmehr geht es um den eigenen Verzicht, um großzügig gegenüber anderen sein zu können. Bei einem anderen antiken Kirchenvater heißt es: „Selig ist, wer auch darum fastet, dass er die Armen speise.“

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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