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WERT sachen: Irrgarten

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Vor einiger Zeit standen auf meinem Terminkalender zwei längere Sitzungen in Hannover. Ein Kollege, der wie ich an beiden Treffen teilzunehmen hatte, schlug vor, in der Mittagspause zur Erholung im barocken Schlosspark von Hannover-Herrenhausen spazieren zu gehen. Den Beginn der zweiten Sitzung hätten wir um ein Haar verpasst, denn am Rand der Herrenhäuser Gärten liegt ein Irrgarten, aus dem man nicht leicht herausfindet, ist man erst einmal, ins Gespräch vertieft, hereingeraten: Mannshohe Hecken versperren die Aussicht und lassen einen an der Orientierung zweifeln.

Die Fachleute streiten sich, ob der ursprüngliche griechische Ausdruck „Labyrinth“ der Oberbegriff für Irrgärten und Labyrinthe ist, also sowohl für Anlagen mit sich verzweigenden und kreuzenden Wegen als auch für Systeme mit einem einzigen, mehrfach verschlungenen Weg zum Ziel; sicher ist aber, dass es Irrgärten erst seit der Renaissance gibt, während auch eine hässliche moderne Betonrekonstruktion nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass der Palast von Knossos auf Kreta geringfügig älter ist: Dort soll sich der Sage nach aber das große Labyrinth befunden haben, in dem der Stiermensch Minotaurus gefangen gehalten wurde, der alle neun Jahre 14 hoffnungsvolle junge Kreterinnen und Kreter auffraß. Solange, bis Theseus in das Labyrinth eindrang und den Unhold umbrachte.

Nicht nur die Liebe ist ein Irrgarten, dessen erste Schritte man freilich nach Friedrich Maximilian von Klinger als äußerst angenehm empfindet: Immer wieder einmal führt im Leben offenkundig kein gerader Weg zum Ziel, und man muss ohne rechte Übersicht entschlossen zwischen meterhohen Hecken voranschreiten. Finstere Unholde, die zwischen den Hecken hervorbrechen, um Irrende zu erschrecken, gibt es aber nur in der Sage; was man auf den ersten Blick für Heckenschützen halten könnte, sind zumeist recht schlichte Passanten, die nur etwas eigentümliche Vorstellungen von angemessenem Verhalten haben.

Klinger hat auch die „sogenannte moralische Welt“ mit den Irrgängen und Durchkreuzungen eines Irrgartens verglichen. Der rund 200 Jahre alte Vergleich beschreibt auch heutige Wirklichkeit: Ein zeitgenössischer Philosoph spricht angesichts der Komplexität gegenwärtiger ethischer Urteilsbildungen von einer „neuen Unübersichtlichkeit“. Wichtig ist, dass man sich in den Irrgärten des Lebens nicht beirren lässt, auf Wegen wie Irrwegen den Mut nicht sinken lässt und ebenso fröhlich wie entschlossen weiter dorthin marschiert, wo mit guten Gründen das Ziel zu vermuten ist.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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