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WERT sachen: Komplexitätsreduktion

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Vor einigen Tagen stand ich ratlos vor einem Wasserhahn in einem ziemlich bekannten Berliner Hotel: „Zur Benutzung ziehen“ stand auf dem Kopf des Hahns geschrieben und also zog ich den Kopf in die Höhe – was nicht funktionierte, der Kopf blieb in seiner Stellung und meine Hände ungewaschen. Erst nach einer ganzen Weile wurde mir klar, dass sich die Aufforderung zu ziehen auf ein Heran- bzw. Herunterziehen des Kopfes und nicht auf sein Hochziehen bezog. Nun wird man nicht bestreiten können, dass die zunehmende Pluralisierung der Formen und Funktionstypen von Wasserhähnen in Hotels eher einen ästhetischen Fortschritt denn eine beklagenswerte Entwicklung darstellt – als ich nach meiner Berufung im Frühjahr 2004 zunächst im Gästehaus meiner Universität übernachtete, gab es dort noch die wunderbaren Brauseköpfe, die man aus der Badewanne zur Handwäsche ins Waschbecken schwenken musste. So ist das wiedervereinigte Berlin: drüben Spuren einer vergangenen Epoche der Komplexitätsreduktion (aus Gründen von Materialknappheit), hüben deutliche Zeichen einer exorbitanten Komplexitätssteigerung (als Folge der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft).

Während meines Studiums kaufte ich mir ein Taschenbuch des Philosophen Habermas einfach deswegen, weil sein Titel mir die dramatischen Folgen der exorbitanten spätneuzeitlichen Komplexitätssteigerung wunderbar auf den Begriff zu bringen schien (und das, obwohl mir schon damals die Habermassche Wahrheitstheorie ganz und gar nicht einleuchtete). Das Büchlein, in der berühmten „Edition Suhrkamp“ verlegt, hieß „Die neue Unübersichtlichkeit“ und erschien 1985; der gleichnamige Aufsatz behandelt (lange, lange vor der berühmten Friedenspreisrede) „die Erschöpfung utopischer Energien“. Wenn Religion die Funktion hat, Komplexität zu reduzieren (wie der Soziologe Niklas Luhmann meint), dann könnte tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der Erschöpfung utopischer Energien und zunehmender Komplexitätssteigerung bestehen. Vermutlich sind aber ganz andere Faktoren entscheidend als die zerbröselnden religiösen wie antireligiösen Utopien oder die überkomplizierten Designerwasserhähne. Wenn das so wäre, dann bräuchte es mehr denn je eine Reduktion von Komplexität, die nicht als Trivialisierung oder Banalisierung daherkommt. Diese Aufgabe weist der Mathematiker Benoît B. Mandelbrot der Wissenschaft zu. Und im Sinne einer solchen Komplexitätsreduktion ist dann auch ein Satz des mittelalterlichen Theologen Thomas von Aquin gemeint: veritas est simplex, zu Deutsch etwa: „Die Wahrheit ist unkomplex.“

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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