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WERT sachen: Lesen

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Einer meiner Tübinger akademischen Lehrer schrieb in das kommentierte Vorlesungsverzeichnis gern als Ziel seiner Seminare: „Hier soll schlicht lesen gelernt werden“. Genau das vermittelte er auch: Er exegesierte auf sehr gründliche Weise klassische Texte Satz für Satz, buchstabierte die Bedeutungen nach und rekonstruierte die Gliederung der Abschnitte. Viel Text wurde nicht geschafft, nicht wenige waren nach den Sitzungen geschafft, ich war dagegen regelmäßig vollkommen begeistert – war mir doch ein maßstabsetzender Beitrag zu einem zentralen Problem meines Faches in völlig neuer Weise gegenwärtig geworden. Ich gebe zu, dass ich in meinen eigenen Lehrveranstaltungen diesen Stil, schlicht lesen zu lehren, bedenkenlos kopiere.

Ich kopiere ihn bedenkenlos, weil mich noch heute ein Erlebnis aus der Gymnasialzeit rot werden lässt, das ich meinen Studierenden herzlich gern ersparen möchte. Wir erhielten eine Klausur im Fach Deutsch zurück, und ich las sofort am rechten Rand die schwungvollen Zeilen meines Lehrers: „Lesen heißt hingucken, junger Freund!“. Und sah im selben Augenblick, was seinen ironischen Kommentar ausgelöst hatte: Thema der Arbeit war Goethes Faust, und ich hatte über eine anfängliche „Zuneigung“ geschrieben: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“. Eigentlich hätte der Deutschlehrer angesichts der luschigen Lektüre seines Schülers auch diesen Satz des Dichters an den Rand schreiben können.

Seit Studientagen folge ich dem Rat eines Marburger Lehrers, lese wichtige Texte, mit denen ich mich beschäftige, nicht nur einfach still vor mich hin, sondern schreibe sie ab, gliedere sie nach Sinnzeilen, male gelegentlich mit Buntstiften darin herum und lese mir das Ergebnis laut vor. Gelegentlich zeigt eine solche Beschäftigung, wie heruntergeschludert, sprachlich verunglückt und fachlich sinnlos ist, was ich da lesen muss. Das gilt insbesondere für hochschulpolitische Grundsatzerklärungen. Gelegentlich gewinnt man aber auch den Eindruck, einen Meister der Sprache oder des Faches vor sich zu haben, der ganz unauffällig daherkommt.

Die Zahl der Menschen, die des Lesens unkundig sind, soll in unserem Land wieder im Steigen begriffen sein. Das gilt leider nicht nur für die, die die Anschläge in der Postagentur nicht mehr einwandfrei lesen können. Umso wichtiger, dass es – beispielsweise an Universitäten – Menschen gibt, die andere schlicht lehren, das Lesen zu lernen.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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