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WERT sachen: Neugierde

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

Mit dem Staunen und Wundern fängt das Wissen an und damit auch die Wissenschaft – diese grundlegende Einsicht kann man an vielen Stellen nachlesen und bei vielen Denkern finden; sie geht im Kern auf Platon zurück, der das Staunen als „Anfang der Philosophie“ bezeichnet hat. Wie kommt man aber dazu, zu staunen? Wie lernt man, sich zu wundern und nicht alles in stoischem Gleichmut für selbstverständlich zu halten?

Vermutlich am ehesten dann, wenn man etwas Neues und Unerwartetes findet oder wenigstens das Altbekannte neu sehen lernt. Dazu muss man aber neugierig sein, auf Neues erpicht sein. Neugierig zu sein galt lange Zeit nicht als Charakterzug von Wissenschaft, im Gegenteil: Lessing spricht von der „kindischen Neugierde des Publikums“ und meint damit die schlichte Lust auf Sensationen und Klatsch, die der Boulevard und bisweilen auch der Wissenschaftsboulevard befriedigen.

Und so war für eine lange Zeit die Welt ebenso schiedlich wie friedlich geteilt: Neugier galt als Verhalten noch ungebildeter Kinder, Wissbegier als Haltung der erwachsenen „Freunde der Weisheit“. Bei Friedrich Rückert findet sich der schöne Vers: „Die Neubegierde spielt, die Wißbegierde zielt / die Wißbegierde schaut, die Neubegierde schielt“.

Freilich war mindestens einigen hellsichtigen Köpfen auch schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts klar, dass das absichtslose Spiel und das ziellose Schielen in sehr unterschiedliche Bereiche hinein eine zentrale Voraussetzung für produktives Staunen, neues Wissen und damit für den wissenschaftlichen Fortschritt ist – besonders bei Schleiermacher kann man über das „freie Spiel der Gedanken und Empfindungen“ und seine Bedeutung für die Wissenschaft viele kluge Sätze lesen. Und unter den gegenwärtigen Bedingungen explodierenden Wissens und sich beständig steigernder Komplexität von Wirklichkeit gilt erst recht, dass neben aller zielgerichteten Untersuchung auch spielerische Neugierde notwendig ist, um im Meer der Möglichkeiten die richtigen Lösungen zu finden.

Ob allerdings die deutschen Universitäten mit ihren betonierten Strukturplänen, wenig risikofreundlichen Verwaltungs- und Fördermechanismen und stark verschulten Studienordnungen so viel Freiraum für wissenschaftliche Neugier bieten, wie das in anderen Ländern selbstverständlich üblich ist, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden. Hier muss also im neuen Jahr auch etwas getan werden.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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