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WERT Sachen: Vergessen

Von Christoph Markschies, Präsident der Humboldt-Universität

In jedem Fall ist das Vergessen ein Thema für die Wissenschaft: Verschiedene Berliner Einrichtungen bemühen sich gegenwärtig, ihre herausragende Stellung bei der Erforschung der nach Alois Alzheimer benannten senilen Demenzerkrankung durch gemeinsame Investitionen weiter zu steigern. Aber ist Vergessen auch eine Wertsache?

Ich höre noch den jüdischen Publizisten Schalom Ben-Chorin, wie er in vorgerücktem Alter mit leicht sarkastischem Unterton eine Rückfrage zu einem Vortrag beantwortete: „Drei Dinge vergesse ich seit einigen Jahren: Namen, Zahlen und … und …“ Und ganz gewiss kann man nicht wollen, dass etwa die von Deutschen im zwanzigsten Jahrhundert begangenen Untaten vergessen werden, denn sonst nimmt die Gefahr der Wiederholung exorbitant zu. Auf der anderen Seite formuliert Friedrich Nietzsche in seiner „Fröhlichen Wissenschaft“ den Aphorismus: „Denn gesund ist, wer vergaß“ und in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ noch pointierter: „Es ist aber gänzlich unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben“. Wie eine Erläuterung wirken Passagen aus Friedensverträgen, die der studierte klassische Philologe Nietzsche vermutlich kannte – Passagen, in denen die vormals kriegführenden Parteien das Vergessen vergangenen Unrechts verabreden: Vergeben und vergessen!

Unter exakt dieser Bedingung erließ 1814 der aus dem Exil zurückgekehrte Bourbone Ludwig XVIII. seine neue Verfassung, breitete den Schleier des Vergessens über die Gräueltaten der Französischen Revolution. Noch anlässlich des Türkischen Friedens von Lausanne 1923 wurde ein solches Vergessen der Ereignisse, „die den Frieden im Orient gestört haben“, verabredet. Und nun stelle man sich den Gang der jüngsten Geschichte auf dem Balkan vor, wenn nach 1989 dieser Maxime gefolgt worden wäre!

Weihnachten und wenige Tage vor Jahresende muss man nicht auf die große Politik schauen. „Es gibt so viel Irrationelles, gegen das man sich nur durch Vergessen hilft“, schreibt Nietzsche 1872 an seine Freundin, die Schriftstellerin Malwida von Meysenburg. Der Jahresrückblick wird fröhlicher, das Weihnachtsfest feierlicher, wenn man dieser Maxime des Atheisten Nietzsche folgt und etwa allen hässlichen Streit, alle Absurditäten einfach vergisst. Man folgt damit auch einer Maxime des Gottes, an den der Pfarrerssohn Nietzsche nicht mehr glaubte: Der hat offenkundig auch alle menschliche Bosheit und Gehässigkeit vergessen, wenn er ihnen seinen Sohn zur Zeit des Kaisers Augustus, als Cyrenius Landpfleger in Syrien war, als Mitmenschen aus der Ewigkeit in die Zeit schickte, hat vergeben und vergessen.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden zweiten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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