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Wissen: Wie geht Wiedervereinigung?

Am Institut für Koreastudien an der Freien Universität forschen deutsche und südkoreanische Wissenschaftler. Immer wieder zieht es auch Politiker aus Südkorea nach Dahlem – sie haben die Hoffnung auf eine koreanische Einheit noch nicht aufgegeben.

Was er über Berlin sagen kann? Auch wenn er erst seit Kurzem in der deutschen Hauptstadt ist? Über diese Frage muss Du Kwan Kim nicht lange nachdenken: „Ich war beeindruckt von den Bussen. Jeder Bus hier hat einen barrierefreien Einstieg, der sich automatisch den Fahrgästen entgegensenkt.“ Du Kwan Kim ist kein gewöhnlicher Berlin-Tourist, sondern Südkoreas ehemaliger Innenminister. Was ihn an den gelben BVG-Bussen fasziniert, ist deshalb auch weniger die Technik – die würde seine Heimat Korea wohl kaum vor ein Problem stellen, sagt er. Sondern die Symbolik. „Es sagt etwas darüber aus, wie eine Gesellschaft über benachteiligte Menschen denkt.“ Deutschland – ein Land wie ein Bus, der jeden mitnimmt. Dieser Gedanke hat ihm gefallen. In Berlin will er mehr über den Wohlfahrtsstaat und das politische System erfahren.

Deutschland und seine Hauptstadt Berlin erleben gerade eine Renaissance. Unbemerkt von den meisten Deutschen ist ihr Land – nach den 1960er Jahren zum zweiten Mal – ein beliebtes Ziel für koreanische Politiker auf Bildungsreise geworden. Ihr Ausgangspunkt ist das Institut für Koreastudien der Freien Universität in der Dahlemer Fabeckstraße. Erst vor wenigen Wochen gelandet etwa ist der frühere Premierminister Hwang-sik Kim. Was zieht ihn direkt nach seinem Ausscheiden aus dem politischen Amt nach Berlin? „Ich denke, dass man viel von Deutschland lernen kann. Hier gibt es in der Wirtschaft keinen völlig liberalisierten Markt, sondern die soziale Marktwirtschaft. Für Korea ist das ein gutes Modell, an dem man sich orientieren kann.“

Deutschland kennt Hwang-sik Kim noch aus seiner Studienzeit, damals hat er ein Jahr an der Universität Marburg verbracht. Die erste Hochphase als Studienobjekt koreanischer Politik hatte Deutschland zu der Zeit bereits hinter sich: Das „Wirtschaftswunder“ oder „Wunder vom Rhein“ wurde in den 1960er Jahren zu einem Vorbild für den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg des asiatischen Landes.

Mit dem „Miracle on the Han-River“ stieg das Land so schnell wie kaum ein anderes vom Entwicklungsland zur starken Wirtschaftsnation auf. Eine Erfolgsgeschichte, die für die koreanische Gesellschaft nicht nur positive Folgen habe, sagt Hak-Kyu Sohn. Der ehemalige Vorsitzende der Demokratischen Partei Südkoreas ist seit Januar Gastwissenschaftler am Institut für Koreastudien. „Korea befindet sich in einer Phase tiefer gesellschaftlicher Veränderung. Viele Jahre ging es immer nur um wirtschaftliches Wachstum, wir sind die ganze Zeit vorwärts gerannt. Jetzt sind wir an einen Punkt gelangt, an dem die Menschen auf ihr Leben schauen und sich fragen: Was ist das Ziel von Wirtschaftswachstum? Sollten wir nicht endlich einen Wohlfahrtsstaat aufbauen, in dem die Menschen ein bisschen glücklicher sind?“ Hak-Kyu Sohn ist davon überzeugt, dass das Deutschland von heute für Korea nicht nur in der Sozialpolitik Modellcharakter hat. Auf seinem persönlichen „Studienverlaufsplan“ in Deutschland standen Treffen mit Bundestagsabgeordneten und EU-Parlamentariern, aber auch der Besuch eines Windparks in Schleswig-Holstein.

Noch vor einigen Jahren bereisten Sohn und viele andere Politiker aus Korea auf der Suche nach politischer Inspiration die USA und Washington. „Jetzt gibt es einen Trend, eher Deutschland als Modell für die weitere koreanische Entwicklung zu sehen“, sagt er. Das habe auch mit der deutschen Teilung zu tun. Eine historische Erfahrung, die Korea mit Deutschland verbinde, sagt Young-kwan Yoon. Der Professor für internationale Beziehungen an der Seoul National University war 2003 südkoreanischer Außenminister. Seit März ist er in Berlin, um zur Wiedervereinigung und sozialer Gerechtigkeit zu forschen. „Mich interessiert, welche Lehren wir aus der deutschen Erfahrung der Wiedervereinigung für Korea ziehen können. Wie kann eine Wiedervereinigung funktionieren? Welche Diplomatie war 1989 nötig, um Widerstände – etwa einiger Nachbarländer Deutschlands – zu überwinden?“

Die Wiedervereinigung ist einer der wichtigsten Gründe, warum es so viele koreanische Politiker an das Institut für Koreastudien und die Freie Universität zieht. „Das Institut ist bekannt bei der politischen Elite Koreas – vor allem wegen seiner Aufarbeitung der Wiedervereinigung“, sagt Professor Yoon. Unter der Leiterin des Instituts, Professorin Eun-Jeung Lee, entstanden mittlerweile 50 Bände einer kommentierten Dokumentation zum deutschen Einigungsprozess auf Deutsch und Koreanisch.

„Neben der Forschung haben wir als Wissenschaftler aber auch eine Vermittlungsfunktion“, sagt Eun-Jeung Lee. So konzipiert das Institut in Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern Studienprogramme zur deutschen Einheit für Beamte und Politiker aus Korea. Im vergangenen Jahr nahmen mehr als 60 koreanische Bürgermeister, Beamte und Politiker teil, besuchten Orte in den neuen Bundesländern und sprachen mit Zeitzeugen der deutschen Wiedervereinigung.

Die Wissenschaftler des Instituts für Koreastudien verstehen sich aber nicht nur als Vermittler der Politik der deutschen Vergangenheit, sondern auch der koreanischen Politik der Gegenwart. Vor dem Hintergrund von Raketentests und Provokationen aus Nordkorea sei es in Deutschland bisweilen nicht einfach zu erklären, dass für Koreas Gesellschaft viele andere Fragen eigentlich dringlicher sind. „Wir wollen keine Tagespolitik prognostizieren – uns geht es um das Verständnis für beide Seiten Koreas“, sagt Eun-Jeung Lee. Deshalb sei auch die intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Wiedervereinigung aus koreanischer Perspektive aktuell. Und auch für Politiker emotional besetzt, wie Young-kwan Yoon andeutet: „Ich glaube nach wie vor an eine Wiedervereinigung.“

Julia Rudorf

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