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Wissenschaft und Kunst: Über den Tellerrand hinaus

Wissenschaft und Kunst treten am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst in einen kreativen Dialog.

Kunst und Wissenschaft definieren den modernen Menschen und sind beide Ausdruck der kognitiven Revolution, die den Weg für dessen Entwicklung ebnete. Beide ermöglichen die Eroberung unbekannter Welten und Räume und im besten Fall tun sie das gemeinsam, die Kunst, indem sie diese metaphorisch ausleuchtet und die Wissenschaft, indem sie ihnen eine begriffliche Dimension verleiht.

Das Interesse an dem Zusammenwirken von Kunst und Wissenschaft ist gerade in den letzten Jahren besonders groß geworden, vielleicht, weil beide Bereiche sich zunächst voneinander entfernt hatten. In dieser Phase, geprägt von einer zunehmenden Dominanz der Wissenschaft in allen Lebensbereichen, ist der Dialog zwischen den beiden weitgehend verstummt. Die von reduktionistischen Ansätzen getragene, geradezu stürmische und erfolgreiche Entwicklung in vielen Teilgebieten der Wissenschaft stößt jedoch zunehmend an Grenzen, zu deren Überwindung ein systemischer Ansatz beitragen kann. Er setzt eine Perspektivänderung und möglicherweise eine Änderung der Vorgehensweise voraus. Wissenschaftler zeigen eine hohe Bereitschaft, sich künstlerischen Vorgehensweisen zu öffnen und dafür ein Verständnis zu entwickeln. Diese Bereitschaft stößt ihrerseits auf ein großes Interesse in künstlerischen Kreisen, die, fasziniert von den neuen wissenschaftlich-technischen Einblicken in den Menschen, den sich daraus abzuleitenden Prozessen eine genuine Neugierde, aber auch kritische Vorbehalte entgegenbringen.

Das Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK), ein Institute for Advanced Study, möchte deshalb einen Beitrag zu einem nachhaltigen Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst leisten und dabei seine Stärken einsetzen. Dieser Ort des Verstehens generiert ein interkulturelles Klima von Akzeptanz, Neugierde und Offenheit, welches eine entscheidende Voraussetzung für einen verständnisorientierten Dialog bildet.

Das Zusammenleben der Fellows über einen längeren Zeitraum im gleichen Gebäude in der relativen Abgeschiedenheit einer parkähnlichen Anlage schafft dafür ideale Bedingungen. Die damit immer wieder erreichte Überwindung der disziplinären Grenzziehungen hat das HWK ermutigt, das Institut für einen intensiven und gerichteten Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst zu öffnen.

Der "fremde" Blick auf die andere Erkenntnisform

Als „Artist in Residence“ werden Künstler im Rahmen des Projektes „art in progress“ eingeladen, die ein besonderes Interesse an den Schwerpunktthemen des HWK gezeigt haben und mit Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftlern zusammenarbeiten. Damit öffnet sich das Haus programmatisch internationalen wie nationalen Künstlern und Künstlerinnen, in deren Arbeiten sich Vorstellungswelten und Denkräume von Kunst und Wissenschaft verbinden. Dabei geht es im Besonderen um die Begegnung von Wissenschaftlern und Künstlern. Der Komponist Luca Lombardi, bildende Künstler wie beispielsweise Elke Nebel, Julia Oschatz, Katja Davar, Olaf Nicolai, Shonah Trescott und Andreas Schön, oder ganz aktuell der Fotograf Elger Esser ermöglichen mit ihrer Präsenz und Arbeit am HWK diesen Diskurs zwischen Kunst und Wissenschaft. Der „fremde“ Blick auf die jeweils andere Wissens- und Erkenntnisform, das unmittelbare Aufeinandertreffen verschiedener Denkstrukturen regen dabei neue Arten der Reflexion auf wissenschaftlicher und künstlerischer Seite an.

So nahm der Düsseldorfer Maler und Fotograf Andreas Schön im Rahmen einer Kooperation mit dem MARUM, dem Zentrum für Marine Umweltwissenschaften an der Universität Bremen, an der Expedition M84/1 des Forschungsschiffs METEOR teil. Forschungsgegenstand der Expedition waren Archaeen (griech. Archaeon „uralt“), die als einzellige Organismen auf eine frühe Domäne des Lebens und den Ursprung des Lebendigen verweisen. Material von diesen Bohrungen im Meeresgrund aus großer Tiefe wurde von Andreas Schön gesammelt und als Pigment für seine im Anschluss an die Reise im HWK entstandenen Werke verwendet, die damit unmittelbar über die Genese des Lebendigen reflektieren.

Darüber hinaus führte Andreas Schön ein Online-Bordtagebuch in Wort und Bild. Seine so gewonnenen Eindrücke (es entstanden 1500 Fotos und 28 Aquarelle) sind das Rohmaterial für einen weiteren Werkentstehungsprozess. Wichtig für Andreas Schön war dabei der Versuch einer künstlerischen Transzendierung des naturwissenschaftlichen Blicks. In zahllosen Diskussionen mit den wissenschaftlichen Fellows und in speziellen Fellow Lectures wurde dieser Aspekt vertieft.

Kunst und Neurowissenschaften

Der Prozess dieser Annäherung zeigt, dass es wissenschaftlicher wie künstlerischer Forschung gerade auch um eines geht: das Erkennen, Begreifen und Darstellen der jeweiligen Wirklichkeit. Die Kommunikation erweitert das Verständnis für den anderen Standpunkt und kann neue Ebenen der Kreativität auf beiden Seiten erschließen.

Das Projekt „art in progress“ zielt deshalb darauf ab, das Spannungsverhältnis zwischen Forschung und Imagination, Logik und Inspiration zu thematisieren. So geschehen auch jüngst im Rahmen des Symposiums „Reale Utopien?“, welches in Zusammenarbeit mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Museum Hamburger Bahnhof begleitend zur Ausstellung „Tomás Saraceno. Cloud Cities“ im Hamburger Bahnhof realisiert wurde. Der Künstler und Architekt Tomás Saraceno, derzeit „Artist in Residence“ im HWK, diskutierte vor dem Hintergrund seiner aktuellen Ausstellung mit Wissenschaftlern und Architekten unter anderem die Frage, wann und ob Visionen Realität werden könnten beziehungsweise wie wissenschaftliche Forschung Utopien behandelt.

Aufgrund seiner Zielsetzung ist das Projekt „art in progress“ eng in den Schwerpunkt Neuro- und Kognitionswissenschaften des HWK eingebunden, dessen Schwerpunktthema „Gehirnwelten“ ist. Dabei geht es um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der neuronalen Konzeptbildung als Grundlage jeglicher Gehirntätigkeit. Neben den wissenschaftlichen Methoden der Neurowissenschaften wird ein tieferes Verständnis künstlerischer Prozesse zu neuen Erkenntnissen über die Konzeptbildung unserer Gehirne beitragen. Voraussetzung dafür ist ein auf synergistisches Verstehen ausgerichteter Dialog, wie er im Rahmen von „art in progress“ ermöglicht wird.

Der Autor ist Neurobiologe und Rektor sowie Stiftungsvorstand des Hanse-Wissenschaftskollegs. Darüber hinaus ist er Direktor des Forschungszentrums Neurosensorik der Universität Oldenburg.

Reto Weiler

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