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Leidende Griechen. Der Wunsch, „reiner Sachverstand“ könne an die Stelle politischen Taktierens treten, ist verständlich – aber naiv. Die griechische Staatspleite ist auch für Ökonomen ein völlig neues Phänomen.

© dapd

Wissenschaft und Politik: Fakten gelten, Werte entscheiden

Sind Forscher die besseren Politiker? Könnten sie die Probleme der Welt lösen, wenn sie die Macht hätten? Nein, sagt Wirtschaftsforscher Gert G. Wagner. Wissenschaft und Statistik dürfen politische Urteile nicht ersetzen.

Es sind nicht nur die Wissenschaftler selbst, die das gern hätten. Auch von vielen Menschen wird immer wieder erhofft, dass wissenschaftliche Erkenntnisse direkt die Politik bestimmen. Dieser Wunsch, dass nicht politisches Taktieren, sondern ausschließlich Sachverstand Regierungshandeln bestimmen, kann man jetzt auch wieder in Griechenland gut beobachten. Von Übergangspräsident Lukas Papademos haben sich viele ein „Kabinett der Fachleute“ erwartet. Auf den ersten Blick ist dieser Wunsch – ganz besonders auch in Griechenland, wo in der Tat die Politik keinen guten Eindruck hinterlassen hat – verständlich. Und doch ist der Wunsch grundfalsch.

Wissenschaftler sind aus systematischen Gründen nicht die besseren Politiker. Denn Politiker müssen meistens hochkomplexe Probleme lösen, bei denen zudem Werturteile eine entscheidende Rolle spielen. Und Wissenschaftler haben für das Durchsetzen von werturteilsbasierten Entscheidungen keine Legitimation. Außerdem gibt es in vielen realen Entscheidungsfragen – was von Wissenschaftlern gerne heruntergespielt oder verschwiegen wird – gar keine wissenschaftlich gesicherten Antworten.

Es gibt insbesondere in den Ingenieurwissenschaften jede Menge gut oder ausreichend gesichertes Wissen. Nur deswegen funktionieren die Wunderwerke der Architektur und Technik im Alltag. Und derartig gutes „Anwendungswissen“ wünschen wir uns auch in den Bereichen der Medizin, der Ökonomie und der Gesellschaft im Allgemeinen. Dies ist aber eine sehr naive Hoffnung. Denn selbst in den Ingenieurwissenschaften funktionieren die konstruierten Dinge keineswegs nur deswegen, weil wir die naturwissenschaftlichen Grundlagen perfekt verstanden hätten. Sondern Häuser bleiben meist stehen, Brücken brechen selten zusammen und Autos fahren lange Zeit ohne Wartung, weil jede Menge Sicherheitszuschläge eingebaut sind. Diese Dinge sind also stärker und robuster als sie theoretisch sein müssten. Und zwar deswegen, weil sie auch funktionieren sollen, wenn die dahinterstehende Theorie nicht perfekt stimmt.

Derartige Sicherheitszuschläge sind beispielsweise bei wirtschaftlichen Problemen viel schwieriger „einbaubar“, da sie meist zu teuer sind. Die meisten von uns können sicherheitshalber nicht zwei- oder dreimal so viel sparen, wie wir es tun, da dann nicht genug zum Leben übrig bliebe. Derartig große Sicherheitszuschläge sind bei Ingenieursarbeit aber keine Seltenheit.

Bei ökonomischen und sozialen Problemen haben wir es oft mit seltenen Ereignissen zu tun. Selten in dem Sinne, dass die exakte Konstellation, in der ein Problem auftritt, zuvor noch gar nicht oder nur ganz selten zu beobachten und zu studieren war. Das trifft zum Beispiel auf Griechenland zu: Eine Staatspleite innerhalb einer Währungsunion hat in modernen Zeiten noch gar nicht stattgefunden. Und die Pleiten einiger amerikanischer Bundesstaaten im 19. Jahrhundert (also im „Dollar-Raum“) sind mit Griechenland und dem Euro-Raum kaum vergleichbar, da heutzutage eine weltweite ökonomische Vernetzung für ganz andere Abwärtsspiralen sorgen kann, als das in den weiten der amerikanischen Prärie im 19. Jahrhundert der Fall war. Seltene Ereignisse sind aber auch in den Natur- und Ingenieurwissenschaften notorisch schwierige Probleme. Denn dann fehlt die statistische Erfahrung, die man braucht, um gut prognostizieren zu können.

Seltene Krankheiten und die Sicherheit der Atomkraft sind – wie der amerikanische Atomphysiker Alvin Weinberg schon 1972 schrieb – Musterbeispiele für Probleme, die allein mit wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zu lösen sind. Wie schwache radioaktive Strahlung auf seltene Krankheiten wirkt, ist grundsätzlich wissenschaftlich zu beantworten. Aber bei sehr seltenen Krankheiten müsste man Milliarden von Menschen kontrollierten Experimenten unterziehen, um anschließend eine statistisch gesicherte Aussage machen zu können. Und das gleiche Problem gibt es – darauf wies Weinberg schon vor 40 Jahren hin – bei der Abschätzung der Sicherheit von Atomkraftanlagen. Wenn jahrelang behauptet wurde, dass ein GAU praktisch ausgeschlossen sei, dann war das nur eine Hoffnung, aber keineswegs eine wissenschaftlich gesicherte Aussage. Denn um die behauptete nahezu hundertprozentige Sicherheit vom Atomkraftwerken wirklich beweisen zu können, hätten tausende von Atomkraftwerken einige Jahrzehnte unfallfrei laufen müssen. Oder die paar Dutzend Versuchskraftwerke müssten ein paar Jahrtausende laufen, um die behauptete verschwindend geringe Gefahr beweisen zu können. Inzwischen wissen wir, dass eine so aufwendige Testreihe nicht nötig war: Einige Jahrzehnte und einige hundert Atomkraftwerke haben gereicht, um zu offenbaren, dass ein GAU keineswegs auszuschließen ist.

Weinberg nennt Behauptungen oder Prognosen, die zwar theoretisch, aber nicht praktisch durch gut abgesicherte wissenschaftliche Ergebnisse aufgestellt werden können, „transwissenschaftliche Probleme“. Und davon gibt es leider mehr als genug. Gerade in den Wirtschaftswissenschaften.

Konjunkturprognosen sind ein permanentes Problem. Denn kaum ein Konjunkturzyklus gleicht dem anderen. Und einen konjunkturellen Verlauf gibt es erst seit etwa 200 Jahren. Es liegen also gemessen an der Komplexität des Prognoseproblems sehr wenige Beobachtungsdaten vor. Deswegen sind Konjunkturprognosen so notorisch schwierig. Und wie gesagt: Bei gleichgelagerten naturwissenschaftlichen Problemen, etwa der Sicherheit von Medikamenten und Atomkraftwerken, sind die Probleme völlig analog, und im Ergebnis herrscht große Unsicherheit.

Warum es so wichtig ist, dass über Werturteile demokratisch abgestimmt wird, lesen Sie auf der nächsten Seite.

In der Gesellschafts- und Sozialpolitik kommt zur Prognoseunsicherheit noch eine weiteres, grundsätzliches Problem hinzu. Bei vielen Entscheidungen geht es nicht um „richtig“ oder „falsch“, sondern um Entscheidungen auf Basis von Werturteilen. Zum Beispiel: Ob und wie stark ein Steuersystem progressiv ausgestaltet sein soll (also Wohlhabendere stärker belastet als weniger wohlhabende Menschen), kann nicht wissenschaftlich entschieden werden, sondern nur im politischen Entscheidungsprozess. Und das ist bei uns zum Glück ein demokratischer Prozess. Dieser zeichnet sich erfahrungsgemäß nun einmal dadurch aus, dass gestritten wird und (Eigen-)Interessen eine große Rolle spielen. Und am Ende muss die Mehrheit entscheiden. Ein „Kabinett der Fachleute“ kann höchstens helfen, etwa wenn es darum geht, die Wirkungen und Nebenwirkungen einer Steuerreform möglichst gut abzuschätzen. Bei grundlegenden Reformen handelt es sich aber regelmäßig um transwissenschaftliche Probleme, da die grundlegende Veränderung mangels historischer Vorbilder nicht richtig studiert werden kann.

Aufgrund von Wertentscheidungen, über die nur mehrheitlich abgestimmt, aber nicht wissenschaftlich gestritten werden kann, und aufgrund von transwissenschaftlichen Prognoseproblemen, die eher die Regel als die Ausnahme sind, können Wissenschaft und Statistik niemals politische Entscheidungen ersetzen. Und wenn ein Wissenschaftler sich aktiv in die Politik einmischt, muss die Öffentlichkeit höchst aufmerksam sein. Viele Wissenschaftler versuchen nur, ihre eigenen Wertvorstellungen durchzusetzen. Etwa bezüglich niedriger Steuern. Manchmal geht es auch nur darum, mehr Geld für die eigene Forschungsrichtung zu bekommen. Für die Atomforschung ist das historisch gut belegt.

Wissenschaft und Statistik sind deswegen im politischen Entscheidungsprozess keineswegs überflüssig. Ganz im Gegenteil. An der Realität vorbei kann man keine Politik machen. Deswegen ist zum Beispiel Statistik so wichtig. Winston Churchill hat das so formuliert: „Look at the facts because they look at you.“ Das Problem ist freilich: Viele Fakten sind keineswegs bekannt, sondern wir sind auf Prognosen angewiesen. Entsprechend vorsichtig sollten Wissenschaftler sein, wenn sie Politikberatung betreiben. Die Prognosemethoden werden ja auch ständig – und in der Tat erfolgreich – weiterentwickelt. Allein dieser Fortschritt zeigt ja bereits, dass man mit den Prognosen „am aktuellen Rand“ vorsichtig sein muss.

Und wir alle sollten mehr Respekt vor Politikern haben. Wie alle Menschen verfolgen Politiker Eigeninteressen, und wie alle Menschen irren Politiker. Aber niemand kann die Verantwortung für die Gesellschaft und das Staatswesen den Politikern abnehmen. Dafür gebührt ihnen mehr Respekt, als wir ihn im Alltag für „die Politik“ aufbringen.

Der Autor ist Vorstandsvorsitzender des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und Vorsitzender des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten. Er gehört auch der Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität“ des Deutschen Bundestags an. Dieser Aufsatz beruht auf einem öffentlichen Vortrag: der dritten „Distinguished Lecture“ des Rats für Sozial- und Wirtschaftsdaten.

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