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Wissenschaftskolleg Berlin: Verführer im Think Tank

Über letzte Dinge sprechen: Der Archäologe Luca Giuliani leitet das Wissenschaftskolleg als heitere Gelehrtenrepublik.

Ein kühler Morgen in Grunewald. Mit langen Schritten kommt Luca Giuliani seinem Gast entgegen: groß, schlank, lässiges, elegantes Sakko, klare, helle Augen. In der wissenschaftlichen Welt genießt er einen exzellenten Ruf als Forscher und Manager. Doch im Unterschied zu vielen anderen Stars des Betriebs hört er auch gerne zu. Bevor er über seine Arbeit und sein Haus in der Wallotstraße spricht, will er sein Gegenüber kennenlernen, seine Geschichte, seinen Hintergrund. Giulianis Fach ist die Klassische Archäologie, doch das Leben findet heute statt. Auch das kann man von den Alten lernen, wenn man mag.

Johann Joachim Winckelmann machte den antiken Süden zum Sehnsuchtstopos ganzer Generationen von Lehrern. Sogar viele Schüler suchten das Land der Griechen mit der Seele, aber meist war es doch eine ernste Sache, das Streben nach dem Schönen, Guten und Wahren. Jetzt, in Zeiten perpetuierter Bildungsreformen, hat es wieder Konjunktur, doch von „Orientierungswissen“ möchte Giuliani lieber nicht reden. „Darauf reagiere ich etwas allergisch“, sagt er rasch. „Ich habe bei einer Generation studiert, in der noch starke Nachwehen der beinharten humanistischen Sicherheit zu spüren waren, dass die Klassik ein unverrückbarer, verbindlicher Wert ist.“ Die antiken Texte galten als ewige Normspeicher. Giuliani sieht das anders: „Ich erlebe es als ungeheure Befreiung, nicht mehr nach Normen suchen zu müssen.“ Was ihn reizt, was ihn seit Jahrzehnten in die Archive und Bibliotheken treibt, ist das Exotische: „Also nicht das Vertraute, sondern gerade das, was dahinter an Fremdem lauert. Wenn man diesen humanistischen Marmorstaub wegpustet, entdeckt man ein sehr vitales Fremdes.“

Das Wissenschaftskolleg ist ein freundlicher Ort, und es ist offen für dieses Fremde. Jährlich sind hier rund 40 Gelehrte aus aller Welt zu Gast, Biologen, Philologen und Psychologen, Juristen, Mathematiker, Historiker, ab und an ein Schriftsteller. Wenn sie nach zehn Monaten heimkehren, liegen intensive Forschungen hinter ihnen – und viele Gespräche.

Wer ins Kolleg kommt, sucht den Austausch. Dass er ihn auch findet, dafür sorgt Giuliani gemeinsam mit seinem Team. Etwa 50 Leute stehen ihm zur Seite, fest Angestellte und Mitarbeiter in Projekten. Das Besondere für die Gäste ist: „Es gibt keine Machtprobleme – und es gibt keine gemeinsamen Bekanntschaften, also auch keinen Klatsch.“ Und immer wieder entstehen Situationen, in denen über „die letzten Dinge“ gesprochen wird, „über das, was einen wirklich bewegt“. Giuliani macht eine Pause, überlegt. „Das ist schon sehr merkwürdig“, sagt er dann, „das hat man zum letzten Mal so mit 18, 19 gemacht.“

Und was sind diese „letzten Dinge“? Giuliani erinnert sich, wie er damals, als er selber Fellow im Haus war, einmal mit zwei Kollegen zusammen essen ging, mit einem Arabisten und einem Linguisten. Im Gespräch stellte sich heraus, dass der Linguist jeden Samstag in die Synagoge ging – und inzwischen sämtliche Berliner Synagogen besucht hatte. Giuliani war überrascht, weil sein Kollege auf ihn alles andere als religiös wirkte: „Als ich sagte, es käme mir nie in den Sinn, katholische Kirchen abzugrasen, beugte er sich über den Tisch und sagte: ,And what gives a meaning to your life?’ – ,Und was gibt deinem Leben einen Sinn?’“

Zweimal war der 1950 in Florenz geborene Giuliani selbst als Fellow im Wissenschaftskolleg, hier schrieb er an „Bild und Mythos“, seiner Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst, hier entdeckte er, was er jetzt, als Direktor, seinen Gästen ermöglichen will: ein ganz eigenes kommunikatives Milieu. „Habent sua loca libelli“, flachst er, Bücher haben ihre eigenen Orte. Das Kolleg ist ein solcher Buch-Ort. Wer hier war, schreibe jedenfalls anders als zuvor. „Man bemüht sich um Transparenz und darum, die Leute zu verführen, den eigenen Standpunkt einzunehmen.“ Giuliani möchte seine Gäste zum Verführen verführen. Mit Erfolg, die Plätze am Kolleg sind heiß begehrt. Und die Forscher reden miteinander – über das, was sie tun, was sie suchen, was sie antreibt.

In Giulianis Think Tank auf Zeit entsteht jährlich eine neue Gelehrtenrepublik. Für deren Leiter verläuft jeder Tag anders. Am Mittag wird er sein Seminar an der Humboldt-Universität halten – ein Leben ohne Lehre kann er sich nicht vorstellen. Danach Konferenzen, Treffen, Vorträge, gegen Abend wird er in der Universität einen Kollegen einführen, später noch eine Diskussion leiten. Bevor er 2007 das Wissenschaftskolleg als Nachfolger von Peter Wapnewski, Wolf Lepenies und Dieter Grimm übernahm, war Giuliani Professor in Freiburg und München. Forscher ist er geblieben, anders wäre es undenkbar, so ein Haus zu leiten: „Ohne eigenes Projekt wird man nicht ernst genommen.“

Mit seinen fünf Häusern in der Wallotstraße und der Königsallee wirkt das Kolleg wie ein akademisches Utopia: großzügige Salons, Bücher hinter Glas, gedämpfter Stimmen Gemurmel. Dass hier nur wenig an die Massenuniversität erinnert, liegt auch daran, dass man interdisziplinär forscht. Die Bolognareform mit ihren strikten Lehrplänen und den strengen Grenzen zwischen den Fächern gefällt Giuliani nicht: „Wenn Toyota ein Auto baut, das nicht fährt, muss es zurück in die Werkstatt“, sagt er, „doch wenn sich eine Universität Studiengänge ausdenkt, die nicht funktionieren, braucht das lange, bis das Scheitern manifest wird. Das ist tragisch und gefährlich. Wir können uns nicht leisten, eine Generation von Studierenden zu verheizen – schon aus volkswirtschaftlichem Interesse.“

Auf lange Sicht ist er doch optimistischer. Der Weg aus der Krise könnte mit dem Studium generale beginnen. Giuliani bringt das Humboldt’sche Bildungsideal auf eine klare Formel: Wer studiert habe, müsse in der Lage sein, ein Heft des „Economist“ zu lesen. Dazu braucht es ein wenig Latein, Politik, Geschichte und historische Volkswirtschaft: „Man muss etwas über die Tulpenkrise im 17. Jahrhundert wissen. Sonst versteht man die Subprime-Krise schlecht.“

Giulianis Lebensthema bleiben die Bilder und Texte der Alten, ihnen gehört seine Leidenschaft, hier findet er das nächste Fremde. Und eben den Mythos, das heißt: Geschichten. Denn auch in der technisierten Postmoderne, glaubt Giuliani, leben wir mithilfe von Erzählungen; jeder denkt in Mythen: „Die erste Erzählung, die wir uns basteln, ist die der eigenen Biografie. Wer wir sind, das ist ein Privatmythos, ohne den wir gar nicht aus dem Bett stiegen.“ Wer aber da nach der einen Erzählung forscht, auf der alles fußt, nach Orientierung, festen Werten und festem Boden unter den Füßen, scheitere.

So ergeht es auch dem Forscher: „Die Suche nach der Urgeschichte ist wie das Schälen einer Zwiebel: Am Ende haben Sie Tränen in den Augen und nichts in der Hand.“ Andere mag solche Offenheit bestürzen, doch Luca Giuliani wirkt sehr heiter, wenn er über sein Leben mit der Antike spricht. Die alten Bilder und Texte machen halt bescheiden, „nicht in dem Sinne, dass wir klein sind und dass die anderen groß waren, aber dass unsere vermeintlichen Sicherheiten ephemer sind.“

Klassische Bildung als Lebenshilfe? Wer den Mythos kennt, sieht zumindest die Gegenwart in einem anderen Licht, auch sie ist veränderlich, partikular, relativ. Letztlich ist nichts beständig. „Das finde ich eine sinnvolle Lehre aus der Geschichte“, sagt Giuliani lächelnd, „und es ist auch ein Trost. Aber ein sehr diesseitiger Trost.“

Hans-Joachim Neubauer

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