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Zukunft der Gesundheit: Die Entdeckung der Einzigartigkeit

Jeder Mensch ist anders: Was die standardisierte Behandlung bislang erschwerte, sehen Ärzte jetzt als Chance.

Zwei bis drei Quadratmeter sind für jeden Patienten in dem großen Gewächshaus in Halle vorgesehen. Für eine klinische Studie wachsen hier Tabakpflanzen, die genetisch so verändert sind, dass sie individuelle Medizin produzieren – zugeschnitten auf den jeweiligen Menschen.

Die haben alle eines gemeinsam: Das eigene Immunsystem ist bei ihnen der Ursprung eines bösartigen Tumors. Eine der Immunzellen ist entartet und hört nicht mehr auf, sich zu teilen. Ihre Nachkommen überschwemmen den Rest des Immunsystems. Der Patient wird anfällig für Infektionen, leidet an Fieber, Müdigkeit, Gewichtsverlust. Die Krankheit kann sich auf Lunge, Leber oder Niere ausbreiten und führt häufig zum Tod.

Da bei jedem Patienten eine andere Zelle entarten kann, braucht im Prinzip auch jeder Patient ein eigenes Medikament. „Zunächst brauchen wir eine Biopsie aus dem Krankenhaus“, sagt Yuri Gleba. Um die Idee zu entwickeln, gründete der Biologe in Princeton zunächst ein Start-Up-Unternehmen, das 2006 von Bayer gekauft wurde. In der Gewebeprobe jedes Patienten seien zahlreiche Immunzellen enthalten, die meisten aber von dem entarteten Typ, sagt Gleba. „Wir kennen das Eiweiß, das diese Zelle jeweils einzigartig macht. Das suchen wir, lassen es in Tabakpflanzen herstellen und dann können wir es als Impfstoff dem Patienten geben.“ Das Immunsystem soll sich dann gegen die entarteten Zellen wenden und diese zerstören.

Noch sind viele Hürden zu überwinden, bevor der Testlauf zu einer etablierten Therapie führen könnte. Aber das Projekt ist vielleicht das extremste Beispiel für eine Vision, die immer mehr Forscher und Ärzte verfolgen: Eine maßgeschneiderte Medizin, die jedem Patienten genau das Mittel gibt, das ihm am besten hilft und die wenigsten Nebenwirkungen verursacht.

Der einflussreiche Genetiker Francis Collins, Chef der nationalen Gesundheitsinstitute der USA, ist einer der entschiedensten Verfechter der Idee. Er hat der Vision ein ganzes Buch gewidmet: „Meine Gene – mein Leben. Auf dem Weg zur personalisierten Medizin“. Darin schreibt er: „Wir befinden uns am Anfang einer tatsächlichen Revolution in der Medizin, die immerhin verspricht, sich von dem traditionellen Ansatz ,Ein Mittel für alle’ abzuwenden und stattdessen ein effizienteres Verfahren zu verfolgen, bei dem jeder Mensch als einmalig wahrgenommen wird, also über besondere Merkmale verfügt, die als Leitlinie für seine Gesunderhaltung dienen können.“

Das hat tatsächlich etwas revolutionäres, denn die moderne Medizin ist gerade entstanden, indem Ärzte gelernt haben, das Individuum zu ignorieren. Über Jahrhunderte hatten sie zuvor jeden Patienten einzeln betrachtet. Jeder Patient war einzigartig, jeder brauchte eine andere Therapie. James Lind änderte das, als er 1747 Matrosen, die unter Skorbut litten, in mehrere Gruppen aufteilte, die er unterschiedlich ernährte. Einige bekamen Essig, andere Apfelwein, Meerwasser oder Zitrusfrüchte. Nur bei der Zitrus-Gruppe verschwand die Krankheit. Es war einer der ersten klinischen Versuche – und er setzte Maßstäbe. Fortan galt: Medizin ist, was nachweislich vielen Menschen hilft. Die „individualisierte Therapie“ wurde zum Versprechen von Heilern und Homöopathen, die sich damit von der angeblich seelenlosen Schulmedizin absetzen wollten.

Das könnte sich jetzt ändern. Möglich machen soll das vor allem das menschliche Erbgut. „Es gibt schon jetzt hunderte genetische Varianten, die wir kennen, die einen Einfluss darauf haben, welche Krankheiten wir bekommen, wie gut wir Medikamente vertragen, oder wie viel von ihnen wir brauchen“, sagt der amerikanische Biotech-Pionier Leroy Hood.

Mutationen im Gen MLH 1 erhöhen beispielsweise die Gefahr, an Darmkrebs zu erkranken. „Deswegen sollten solche Menschen Darmspiegelungen mit 20 beginnen. Das erhöht ihre Chance, den Krebs früh zu erkennen und länger zu leben“, sagt Hood. Und Menschen mit einer Mutation im Gen für das Eiweiß Faktor V, das an der Blutgerinnung beteiligt ist, hätten ein erhöhtes Risiko eines Blutpfropfes. Darum sollten sie auf Langstreckenflügen besonders viel trinken und Stützstrümpfe tragen.

Kritiker halten dagegen, dass es sich bei diesen Beispielen stets um seltene Krankheiten handelt. „Die beruhen meist auf wenigen Gendefekten mit einem starken Effekt“, sagt Stefan Mundlos, Humangenetiker am Berliner Universitätsklinikum Charité. „Bei häufigen Erkrankungen ist dagegen bisher kaum eine Vorhersage möglich.“

Das könnte auch so bleiben, glaubt Hans-Hilger Ropers vom Max-Planck-Institut für Humangenetik. 15 Jahre und Milliarden Dollar seien in die Suche nach genetischen Risikofaktoren für häufige Erkrankungen wie Demenz, Diabetes und Bluthochdruck investiert worden, schreibt er in einem Beitrag im Fachblatt „Dialogues in Clinical Neuroscience“. Trotzdem hätten die meisten Genvarianten, die gefunden wurden, nur einen geringen Effekt und seien für die Diagnose oder Vorhersage von Krankheiten nicht relevant.

Stefan Schreiber ist dennoch zuversichtlich. Der Wissenschaftler erforscht an der Universität Kiel unter anderem die genetische Grundlage der chronisch-entzündlichen Darmerkrankung Morbus Crohn. „Als Arzt treffen Sie immer eine Risikoentscheidung: Jemand kommt durch Ihre Tür, hat bestimmte Symptome und sie müssen die beste Therapie finden“, sagt Schreiber. Dabei könnten genetische Informationen helfen.

Schreiber hatte vor einiger Zeit so einen Fall. Ein kleines Kind aus England mit schwerem Morbus Crohn wurde an ihn verwiesen. Die gängigen Therapien hatten dem Kind nicht geholfen. „Es lag im Sterben“, erinnert sich Schreiber. Er ließ das Genom des Kindes sequenzieren und entdeckte mehr als 200 Mutationen bei drei wichtigen Botenstoffen, ein Hinweis, dass Immunzellen die Ursache der Krankheit sein könnten. Das Kind bekam daraufhin eine Stammzelltransplantation. Heute geht es ihm besser. „Vielleicht hätte man das auch so geraten, aber es war nur eine von zehn Möglichkeiten.“

Schreiber ist überzeugt, dass genetische Untersuchungen von Patienten in Zukunft ein wichtiges Mittel sein werden. Die individualisierte Medizin sei bereits da, sagt er. „Es geht noch sehr holperig und ist ein Wahnsinnsaufwand, aber es beginnt.“

Am weitesten fortgeschritten ist der Ansatz in der Krebstherapie. Denn Krebs ist nicht gleich Krebs. Forscher wissen, dass es tausende Veränderungen im Erbgut gibt, die Krebs auslösen können. Und welches Medikament das richtige ist, hängt auch von den Mutationen ab, die dem Krebs zugrunde liegen.

So kann Lungenkrebs häufig auf eine Veränderung im Gen Egfr zurückgeführt werden. Der Tumor spricht dann auch besser auf eine Gruppe von Medikamenten an, die Egfr hemmen, wie etwa „Tarceva“. Ist das Gen nicht mutiert, hat es unter Umständen gar keinen Sinn, ein solches Medikament einzusetzen.

„Bei den neuen Wirkstoffen, die zurzeit in der Onkologie zugelassen werden, besteht die Kunst darin, die zehn bis 30 Prozent der Patienten zu erkennen, denen das Mittel hilft und es den anderen nicht zu geben“, sagt Wolf-Dieter Ludwig, Krebsspezialist und Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Das erspare dem Patienten eine unnötige Therapie und dem Gesundheitssystem viel Geld.

Trotzdem ist Ludwig skeptisch: „Ich glaube, dass der Hype um den Begriff individualisierte Medizin nicht gerechtfertigt ist.“ Einige Tests seien zwar sehr gut. Bei anderen sei die Wirksamkeit dagegen nicht bewiesen. Außerdem seien viele der neuen Krebsmedikamente äußerst teuer, verlängerten das Leben der Patienten aber nur um wenige Wochen oder Monate.

Tatsächlich könnte die individualisierte Medizin unterm Strich kein Geld sparen. „Finanziell entlastet wird das Gesundheitssystem durch Personalisierte Medizin wohl nicht - im Gegenteil“, sagt Rainer Hess, Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses. „Durch individualisierte Therapien werden die Kosten eher steigen; auch weil die Diagnostik, die den Vorstellungen und Konzepten nach zu einer zielgerichteteren, effektiveren Behandlung führen soll, zusätzlich bezahlt werden müsste.“

Das haben auch die Hersteller begriffen. Über Jahrzehnte machten Pharmafirmen vor allem mit Blockbustern ihr Geld: Medikamenten, die von zahllosen Patienten eingesetzt werden und mehr als eine Milliarde Euro im Jahr einbringen. Neue Nischen-Medikamente, die nur noch einem Teil der Patienten helfen, schienen da wenig verlockend. „Viele Firmen haben inzwischen aber eingesehen, dass es gar nicht anders geht“, sagt Markus Nöthen, Genetiker an der Universität Bonn. Es kämen immer mehr Medikamente direkt mit einem Test auf den Markt, der Auskunft gibt, ob der Patient profitiert.

Außerdem hoffen die Unternehmen so, den einen oder anderen Medikamentenkandidaten vor dem Aus retten zu können. Denn manches Medikament, das heute in der klinischen Prüfung scheitert, hilft möglicherweise einigen Menschen, bei denen die Krankheit eine bestimmte Ursache hat. In der Masse der Patienten, bei denen das Mittel nicht anschlägt, gehen sie aber unter.

Florian Holsboer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München ist überzeugt, dass es in der personalisierten Medizin um mehr gehen wird als Gene. „In Zukunft wird es sicher auch Biomarker geben, die zum Beispiel die Veränderungen in der Hirnstruktur messen“, sagt Holsboer. Er sieht darin eine riesige Chance für die Psychiatrie, denn momentan helfen viele Medikamente nur einem Teil der Patienten. „Wenn ich eine Depression habe, dann nützt es mir nicht, wenn ich ein Medikament bekomme, dass der Mehrheit hilft, mir aber nicht. Ich möchte ein Mittel, das mir hilft.“

Für die Zukunft sieht Holsboer eine klare Aufgabe: „Wir müssen versuchen, die große Gruppe der Erkrankten – mit Diabetes, Depression, Bluthochdruck – in Gruppen zu teilen, die eine gemeinsame Krankheitsursache haben.“ Dann könne man auch Therapien dagegen entwickeln. Der erste Schritt zur individuellen Medizin, ist es, die Individualität der Krankheiten zu erkennen.

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