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Zukunft der Gesundheit: Herz im Stresstest

Die Pumpschwäche ist eine verborgene Epidemie – Forscher suchen nach neuen Behandlungswegen.

Eigentlich war Lilian Hausmann immer sportlich. Im Urlaub fuhr die Berliner Sekretärin in die Alpen, um Ski zu laufen oder in die Berge zu steigen. Aber im Dezember1996, mit 63 Jahren, ging ihr die Puste aus. „Ich bekam keine Luft mehr“, erinnert sich Lilian Hausmann. „Ich konnte nicht einmal mehr im Liegen schlafen.“ Sie verlor jeden Appetit und nahm in sechs Wochen 17 Kilo ab.

Der Hausarzt tippt auf ein Problem mit den Lungen und verschreibt ein Mittel, das das Atmen erleichtern soll. Als das Ehepaar Hausmann Anfang 1997 zu Freunden nach Bayern fährt, glaubt Lilian Hausmann noch immer, es handle sich um eine vorübergehende Störung. Erst der Sohn der Bekannten, Arzt im Krankenhaus, schöpft beim Abhören des Brustkorbs Verdacht und weist sie sofort in die Klinik ein. Dort wird die Diagnose gestellt: Herzinsuffizienz, eine ausgeprägte Pumpschwäche, verursacht durch eine chronische Herzmuskelentzündung.

Die Herzinsuffizienz ist in der Öffentlichkeit eher wenig bekannt. Sie bricht meist nicht so schlagartig in den Alltag ein wie ein Herzinfarkt. Doch der schleichende Verlauf der Krankheit täuscht. Trotz großer Fortschritte sind die Überlebenschancen oft eher schlechter als bei vielen Tumorleiden, etwa Darm- oder Brustkrebs. „Früher ist jeder Zweite innerhalb von fünf Jahren verstorben, heute überleben zwei von drei Patienten die ersten fünf Jahre nach Ausbruch einer Herzinsuffizienz“, sagt Ralf Dechend, Herzspezialist am Helios-Klinikum Berlin-Buch und Arbeitsgruppenleiter an der Berliner Uniklinik Charité.

Herzinsuffizienz ist eine verborgene Epidemie. In den Industrieländern hat jeder 50. bis 100. eine Pumpschwäche, bei den Menschen jenseits des 70. Lebensjahres ist mindestens jeder zehnte betroffen. Das Leiden ist der häufigste Grund für eine Krankenhauseinweisung bei über 65-jährigen. In den Berliner Krankenhäusern werden jährlich rund 13 000 Menschen wegen der Diagnose Herzinsuffizienz behandelt, schätzt Dietrich Andresen, Leiter der Abteilung für Herzkrankheiten im Vivantes-Klinikum Am Urban in Berlin-Kreuzberg. Bundesweit sind es jedes Jahr bis zu einer Viertelmillion Menschen, die erstmals mit der Krankheit konfrontiert werden. 60 000 bis 70 000 sterben am Pumpversagen.

Die Herzschwäche nimmt im Alter deutlich zu, und die steigende Lebenserwartung lässt erwarten, dass die Zahl der Kranken immer größer wird. Die Zunahme hat noch einen anderen Grund. Immer mehr Patienten überleben Krankheiten, die eine Herzschwäche nach sich ziehen können, etwa einen Herzinfarkt. Es klingt makaber, aber die Herzinsuffizienz ist die Schattenseite des medizinischen Erfolgs, ihr Kollateralschaden.

Pumpschwäche, das bedeutet, dass das Herz es nicht mehr schafft, den Körper ausreichend mit Blut und Sauerstoff zu versorgen. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass das Herz zwei Kreisläufe unterhält. Die linke Herzkammer pumpt das sauerstoffreiche Blut aus den Lungen in den Körper, die rechte Herzkammer sammelt das sauerstoffarme Blut aus dem Organismus und drückt es in die Lungen.

Ist das linke Herz geschwächt, staut sich das Blut davor, also in den Lungen. Schließlich sammelt sich Wasser in der Lunge, Luftnot ist die Folge. Ist das rechte Herz zu schwach, kommt es zum Flüssigkeitsstau in den unteren Körperpartien. Krankheitszeichen sind geschwollene Füße und Beine. Vier von fünf Patienten haben sowohl eine Pumpschwäche des „rechten“ wie des „linken“ Herzens, im Vordergrund stehen die Probleme der linken Herzkammer.

Es gibt viele Ursachen für eine Herzschwäche. Manchmal entsteht sie, wie bei Frau Hausmann, aufgrund einer schleichenden Entzündung. Im Vordergrund stehen die schlechte Durchblutung wegen verkalkter Herzkranzgefäße oder eines Infarkts, eines verstopften Kranzgefäßes, sowie Bluthochdruck. Verengte Herzklappen, eine Herzmuskelerkrankung wegen einer Virusinfektion oder zuviel Alkohols und ein gestörter Herzrhythmus oder die Zuckerkrankheit (Diabetes) sind nicht so häufige Auslöser.

Viele Herzleiden münden schließlich in eine Pumpschwäche. Auf der anderen Seite heißt das: Wer Risikofaktoren wie den hohen Blutdruck bekämpft, beugt auch der Herzschwäche vor.

Meist ist das Herz zu schwach, um ausreichend Blut zu pumpen. Der Anteil des in den Körper „ausgeworfenen“ Bluts am Gesamtvolumen der Herzkammern nimmt ab. Der Herzmuskel kann sich also nicht mehr richtig zusammenziehen. Es entsteht eine Pumpschwäche während der Anspannungsphase, der Systole. Mediziner sprechen von einer systolischen Herzinsuffizienz.

Erst in den letzten zehn Jahren ist eine andere, bislang unterschätzte Form der Herzinsuffizienz ins Bewusstsein gerückt, bei der das Herz sich zwar regelrecht und kraftvoll zusammenzieht, aber nicht entspannen kann. Hier ist die Diastole das Problem, jene Phase, in der sich die Herzkammern wieder mit Blut füllen. Bei der diastolischen Herzinsuffizienz geschieht das nicht mehr ausreichend, der Muskel ist zu steif. Bluthochdruck, Diabetes und Fettsucht bahnen häufig den Weg, öfter sind Frauen betroffen. Ein großes Problem: Es gibt kaum wegweisende Studien zur Therapie dieser Form der Herzschwäche. „Wir behandeln die Patienten notgedrungen, als hätten sie eine systolische Herzinsuffizienz“, sagt der Kardiologe Dechend.

Das Herz als Kreislaufpumpe, dieses Bild trifft durchaus zu. Das faustgroße Hochleistungsorgan schlägt jeden Tag an die 100 000 mal und pumpt zehn Tonnen Blut durch den Körper. Damit das reibungslos funktioniert, bekommen die Muskelfasern ihre Anweisungen von einem zentralen Taktgeber. Der Impuls wird von einem Geflecht von Nervenfasern ans Herz weitergeleitet. Die Nerven laufen in der inneren Auskleidung des Muskels mit weißlichem Bindegewebe entlang wie Stromkabel unter der Tapete.

Aber das Herz ist mehr als eine Maschine. Es lebt und ist eingebunden in ein Netzwerk aus Organen und Stoffwechselprozessen. Inzwischen ist es möglich, die Vorgänge bis auf die Ebene der Gene und Zellen zu studieren. Das verändert das Bild von der Herzinsuffizienz. Zunächst wurde sie auf eine Ausscheidungsschwäche der Nieren zurückgeführt, Flüssigkeitsstau und Salze überfordern das Herz. Die zum Teil erfolgreiche Behandlung mit entwässernden Medikamenten zeigt, dass diese Überlegung richtig war.

Eine zweite Erkenntnis stellte den gestörten Kreislauf in den Mittelpunkt, die Kraftlosigkeit des Herzens und stark verengte Blutgefäße in den Organen waren die Grundlage dieses Modells. Auf seiner Basis wurden die Patienten mit herzstärkenden Wirkstoffen wie Digitalis-(Fingerhut)Präparaten und mit gefäßerweiternden Mitteln behandelt.

Beide Ansätze waren in Maßen erfolgreich. Die Kur mit entwässernden und herzstärkenden Medikamenten linderte, vermochte aber weder das Fortschreiten der Herzschwäche aufzuhalten noch das Leben zu verlängern.

Erst ein dritter Ansatz brachte vor gut 20 Jahren den Durchbruch. Ärzte fanden Hinweise, dass blutdrucksenkende Medikamente aus der Gruppe der ACE-Hemmer und der Betablocker auch gegen Herzschwäche halfen. Es stellte sich heraus, dass diese Wirkstoffe nicht nur die Herzinsuffizienz deutlich besserten, sondern auch die Lebenserwartung wesentlich erhöhten. Nun war es möglich geworden, die bis dahin schicksalhaft voranschreitende Krankheit aufzuhalten.

Wie konnte das sein? Die Medikamente halfen nicht nur gegen Bluthochdruck. Sondern auch gegen einen aus dem Ruder gelaufenen Versuch des Körpers, eine Pumpschwäche auszugleichen, wie sie etwa durch einen Infarkt entstanden war.

Der Organismus – und auch das Herz selbst – produzieren hormonartige Stoffe („Neurohormone“), die den Kreislauf trotz geschwächtem und geschädigten Herz aufrechterhalten sollen. Sie wirken wie eine Dauerberieselung mit Adrenalin. Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt.

Was zunächst die Herzschwäche ausgleicht, verschlimmert auf Dauer den Stress. Und wird schließlich selbst zum Schadensfaktor, so dass die Pumpschwäche durch Erschöpfung, Luftnot und Abnahme der Leistungsfähigkeit, etwa beim Treppensteigen, offenkundig wird.

Noch sind nicht alle Prozesse aufgeklärt, die zum Pumpversagen führen. In Deutschland gibt es seit kurzem eine eigene Einrichtung, die sich eigens um die Erforschung und Behandlung kümmert, das im Mai eröffnete Deutsche Zentrum für Herzinsuffizienz in Würzburg.

Viele Forscher beschäftigen sich mit der Herzmuskelzelle. Einer von ihnen ist Stefan Donath. Er untersucht das Absterben von Muskelzellen bei der Herzschwäche – ein folgenschwerer Prozess, weil Herzmuskel praktisch nicht neu gebildet wird. „Was weg ist, ist weg“, sagt Donath. „Mit jeder Muskelzelle geht Herzkraft verloren.“ Der Mediziner studiert ein Eiweißmolekül mit Namen ARC. Es wird im Herzen gebildet und soll den „Selbstmord“ einer Zelle verhindern. Wenn es gelingt, den ARC-Faktor zu stärken, kann das Absterben von Gewebe bei der Herzschwäche gebremst werden.

Donath ist Wissenschaftler und Arzt in einer Person, kennt sowohl die wissenschaftliche Theorie und die Grundlagenforschung als auch die Praxis am Krankenbett. Er arbeitet als Kardiologe im Helios-Klinikum in Berlin-Buch, gleichzeitig hat er in direkter Nachbarschaft ein Labor am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, sein Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziell gefördert.

So verlockend die Idee ist, dem Tod von Herzzellen einen Riegel vorzuschieben, der Weg dahin ist noch weit. Denn die Blockade des Zell-Selbstmords, Apoptose genannt, hat eine Schattenseite. Wer Zellen unsterblich macht, riskiert das Entstehen von Tumoren. Immerhin, Patienten mit Herzinfarkt, die eine Behandlung gegen Apoptose bekamen, hatten einen geringeren Schaden im Herzmuskel. „Aber für die Herzinsuffizienz brauchen wir eine Dauertherapie“, sagt Donath. „Die muss ganz sicher sein.“

Im Verlauf der Krankheit verformt sich das Herz. Zunächst kann sich der Muskel verdicken, das Herz wird größer. Dann erweitert sich die spitz-elliptisch geformte linke Kammer kugelförmig. Der Herzmuskel wird dünner, wie die Wand eines Ballons, der aufgeblasen wird. Muskelzellen sterben ab und werden durch wertloses Bindegewebe ersetzt.

Mit Medikamenten wie den ACE-Hemmern gelingt es, den Umbau zum Teil rückgängig zu machen. Und seit mehr als zehn Jahren kann man das ausgeleierte Herz mit einem Schrittmacher wieder in Form bringen. Denn bei vielen Patienten sind die Kammern aus dem Takt. Sie arbeiten gegeneinander, schwächen das Herz zusätzlich.

Über dünne Drähte, Elektroden genannt, die in der rechten Herzkammer und in einem Blutgefäß auf der linken Herzkammer liegen, wird der Muskel elektrisch so gereizt, dass beide Kammern sich wieder gemeinsam zusammenziehen. Bei den meisten Patienten wird zudem ein Defibrillator eingesetzt, ein Gerät, das gefährliche Rhythmusstörungen mit gezielten Stromstößen beendet.

Auch Lilian Hausmann hat im Juni 2000 einen solchen Schrittmacher im Kreuzberger Urban-Klinikum eingesetzt bekommen. „Wenn ich den nicht bekommen hätte, wäre ich gestorben“, erinnert sie sich. Angenehmer Nebeneffekt: Sie muss weniger Tabletten nehmen. Gerade die Einnahme von Medikamenten ist für Betagte ein Problem. „Nicht selten müssen Patienten zehn Medikamente am Tag nehmen“, sagt der Herzspezialist Ralf Dechend. Häufig werden die Kranken zudem nicht optimal behandelt, Lebensqualität und Lebenserwartung sinken.

Deshalb wird untersucht, wie die Patienten betreut werden können und wie man ihnen das Leben erleichtert – etwa, indem man ihnen unnötige Arztbesuche oder Krankenhauseinweisungen erspart. Medizinische Informationen wie Blutdruck und Gewicht können aus der Wohnung in Klinik oder Praxis übertragen werden, speziell ausgebildete Krankenschwestern die Betreuung übernehmen.

Für Menschen wie die 78jährige Lilian Hausmann gilt es, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Alpiner Skilauf ist natürlich nicht mehr möglich. Aber seit sieben Jahren singt sie im Chor. Genug Puste dafür hat sie.

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