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Albert Einsteins Erkenntnisse prägten das Weltbild der Physik, sein Eintreten für den Pazifismus machte ihn zum Prototyp des engagierten Forschers.

© picture-alliance/dpa

Zum March for Science: Wissenschaft - eine Expedition ins Unbekannte

Eine Alternative zu alternativen Fakten: Wissenschaft liefert keine endgültigen Wahrheiten. Doch das ist ihre größte Stärke.

Die Wahrheit ist in Gefahr. Sie droht unterzugehen in der Vielfalt von Wahrheiten, die uns angeboten werden, „alternative Fakten“, „gefühlte Wahrheiten“, „post truth“ und dergleichen Wahrheiten mehr. Die Strategie lautet: Wo alles wahr sein kann, ist nichts mehr wahr. Offenbar ist sie erfolgreich. Laut des Instituts für Demoskopie in Allensbach halten nahezu zwei Drittel der befragten Personen Experten nicht mehr für vertrauenswürdig. Selbst die Naturwissenschaften werden zunehmend zum Opfer der Angriffe auf die Wahrheit. Schon macht der Begriff „Lügenwissenschaft“ die Runde.

Erstaunlich: Sind nicht die Naturwissenschaften der Inbegriff der Erkenntnisfähigkeit, mit der wir die Spreu der Unwahrheit von der Wahrheit trennen? „Wahrheit“ ist auch innerhalb der Wissenschaften von der Natur ein schillernder Begriff. Auch hier haben es selbst die härtesten Fakten schwer. Gibt es sie überhaupt, die nackten Tatsachen? Die Geschichte der Philosophie ist voller Faktenskeptiker. Immanuel Kant zum Beispiel. Unsere Sinne, so führte der Philosoph aus, vermitteln uns nur ein Abbild der Welt. Sie zeigen uns nicht die Welt selber. Wie wahr ist dann unsere Wahrnehmung der Welt? Kann es eine Erkenntnismethode geben, die Wissen schafft über die Welt, wie sie tatsächlich ist? Fragen, so alt wie die Menschheit selber.

„Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Schon vor Jahrtausenden beschrieb der griechische Philosoph Aristoteles zwei Werkzeuge für die Erkenntnis der Welt: Induktion und Deduktion. Die Induktion führt aus einzelnen Beobachtungen zu übergeordneten Theorien. Und die Deduktion leitet daraus durch logisches Denken weitere Erkenntnisse ab.

Es sollten aber fast volle zwei Jahrtausende vergehen, bis sich die Einsicht durchzusetzen begann, dass denkende Deduktion allein gewaltig in die Irre führen kann. So galt es zum Beispiel seit Aristoteles als ausgemacht, dass ein schwerer Stein schneller fällt als ein leichter. Erst 1586 verfiel der flämische Physiker Simon Stevin auf die Idee, dass man dies auch mal nachprüfen könnte. Und siehe da: Es war falsch! Aus zehn Metern Höhe knallten zwei unterschiedlich schwere Steine gleichzeitig auf den Boden.

Nur wenig später zog der englische Philosoph Francis Bacon die Lehre daraus und formulierte damit die Anleitung für die kommende Erfolgsstory der Naturwissenschaften: „Der Mensch weiß nur so viel, wie er von der Ordnung der Natur durch Experimente oder durch Beobachtung erkannt hat; darüber hinaus weiß und vermag er nichts.“

Fortan sollten Forscher sich also nicht mehr blind auf die Behauptungen eines Aristoteles oder sonstiger Autoritäten verlassen. Die Beschreibung der Welt sollte vielmehr von Fakten ausgehen, die im Prinzip von jedermann und jederfrau überprüft werden können. Das Zeitalter der Aufklärung hatte begonnen. 200 Jahre später formulierte Kant ihre antiautoritäre Leitidee: „Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Die Theorie widerlegen

Fakten sind das eine. Aber wie entwickelt unser Verstand aus Fakten eine Theorie? Eher mit Logik oder eher mit Kreativität? Darüber streiten die Forscher bis heute. Und wenn man eine Theorie aufgestellt hat – wie überprüft man, ob sie wahr ist? Schon der Empiriker Bacon hat eine verblüffende Methode beschrieben: Der aussichtsreichste Test der Wahrheit einer Theorie ist der Versuch zu zeigen, dass sie falsch ist.

In der Neuzeit war der Philosoph Karl Popper der entschiedenste und einflussreichste Verfechter dieser Erkenntnismethode. Laut Popper ist Falsifizierbarkeit das wichtigste Kriterium einer guten wissenschaftlichen Theorie. Denn erst, wenn eine Theorie empirisch widerlegt wird, beginnen wir mit der Suche nach einer besseren. Naturwissenschaft ist also ein Prozess der fortwährenden Annäherung an die Wahrheit, ohne sie aber jemals endgültig erreichen zu können.

Eine der berühmtesten Falsifikationen der Wissenschaftsgeschichte gelang ab 1881 auf dem Telegrafenberg bei Potsdam. Der deutsch-amerikanische Physiker Albert Michelson wollte den „Äther“ nachweisen. Der Theorie zufolge war der Äther das unsichtbare Medium, in dem sich Lichtwellen durch den Kosmos ausbreiten wie Wasserwellen im Wasser oder Schallwellen in der Luft. Doch Michelsons Experimente zeigten unumstößlich: Licht braucht keinen Äther, um durch die Weiten des Alls fliegen zu können. Die Falsifikation der Äther-Theorie erwies sich als äußerst fruchtbar. Denn sie führte Albert Einstein 1905 zu seiner Speziellen Relativitätstheorie. Und die widerstand bis heute jedem Falsifikationsversuch. Sie ist also mit hoher Wahrscheinlichkeit wahr oder zumindest eine gute Annäherung an die Wahrheit.

Der Urknall konnte bisher nicht falsifiziert werden

Ein anderes berühmtes Beispiel für alle bislang gescheiterten Versuche, sie zu falsifizieren, ist die Theorie vom Urknall. Aufgestellt wurde sie 1927 von dem belgischen Priester George Lemaitre, der sich auch wissenschaftlich mit dem Himmel beschäftigte: Der Kosmos sei entstanden aus einem sehr heißen, dichten Anfang heraus. Aber welche Vorhersage aus dieser Theorie konnte man überprüfen auf richtig oder falsch? 1948 schlug der Physiker George Gamov eine testbare Deduktion vor. Wenn es den Urknall tatsächlich gab, dann müsste aus jenen heißen Jugendzeiten des Kosmos eine Restwärme bis heute überdauert haben. Erst 16 Jahre später konnte diese Deduktion verifiziert werden. Und zwar zufällig. Zwei amerikanische Radioastronomen ärgerten sich über ein Rauschen, das sie mit ihrer Antenne aus allen Himmelsrichtungen auffingen. Zunächst glaubten sie, dass das Rauschen die Körperwärme zweier Tauben anzeigen würde, die sich in ihrer Hornantenne eingenistet hatten. Die Tauben wurden entfernt. Doch das Rauschen blieb. Es stammte nicht aus der Nestwärme zweier Tauben, sondern aus der vorhergesagten Restwärme des Kosmos.

Ist der Urknall damit bewiesen? Keinesfalls. Die Verifizierung der aus der Theorie abgeleiteten Existenz der kosmischen Hintergrundstrahlung bestärkte die Zuversicht der Astronomen, auf dem richtigen Weg zu sein. Jawohl, so war es damals vor 13,7 Milliarden Jahren.

Keine wissenschaftliche Theorie ist jemals beweisbar

Genauso wie der Urknall steht grundsätzlich jede naturwissenschaftliche Theorie stets auf unsicherem Wahrheitsboden. Jede aus ihr abgeleitete Vorhersage muss auf den Prüfstand der Realität. Je riskanter eine Deduktion, desto besser. So ist die Vorhersage, dass morgen die Sonne aufgehen wird, keine sehr gewagte Ableitung aus der kopernikanischen Theorie der Drehung der Erde. Eine riskante Deduktion war dagegen die Vorhersage, dass die Drehung der Erde die Schwingungsrichtung eines Pendels stetig verändern würde. Sie konnte erst 1851 von dem französischen Physiker Léon Foucault verifiziert werden. In der Kuppel des Pariser Pantheon verfolgte ein staunendes Publikum, wie sein 67 Meter langes Pendel langsam die Richtung änderte, in der es hin- und herschwang.

Je mehr Verifizierungen eine wissenschaftliche Theorie erfährt, desto sicherer können wir sein, dass sie die Welt richtig abbildet. Oder dass sie zumindest die vorläufig beste Annäherung an die Wahrheit darstellt. Mehr aber auch nicht. Keine naturwissenschaftliche Theorie ist jemals beweisbar! Eine einzige Falsifizierung: Und schon müssen die Lehrbücher umgeschrieben werden. Da dies aber jeder Theorie jederzeit geschehen kann, kann sich kein Naturwissenschaftler seiner Sache jemals absolut sicher sein.

Das Wissen über die Welt wächst

Da staunt der Laie. Unter wissenschaftlicher Wahrheit hatte er sich etwas anderes vorgestellt. Entsprechend leicht lässt er sich verunsichern von allerlei religiösen, wirtschaftlichen und politischen Interessengruppen, denen Zweifel an den Naturwissenschaftlern und an ihren Theorien gut ins Konzept passen. Der Mensch ist ein Geschöpf der Evolution und eng verwandt mit den Affen? Rauchen ist gesundheitsschädlich? Klimawandel? Und dergleichen Skepsisattacken auf das Theoriegebäude der Wissenschaft mehr. Alles nach dem Motto: Außer Hypothesen nichts gewesen.

Welche Verunglimpfung der Naturwissenschaften und des von ihnen seit der Aufklärung in mühevoller Forschung über Jahrhunderte hinweg geschaffenen Weltbildes. Obwohl wir niemals beweisen können, dass dieses Weltbild das wahre Bild der Welt ist, stellt das wachsende Wissen über die Welt eine der größten Kulturleistungen der Menschheit dar. Und nicht zuletzt verdanken wir diesem Wissen unseren materiellen Wohlstand, in dem wir gesund und lang wie nie zuvor durch unser Leben gleiten. Die Naturwissenschaften haben uns tatsächlich zu „Beherrschern und Besitzern der Welt“ gemacht, wie es schon der französische Philosoph René Descartes vor vier Jahrhunderten vorhergesehen hatte. Sie zeigen uns aber auch, welchen hohen ökologischen Preis wir dafür zahlen.

Auf der Suche nach Besserem

Das Erfolgsrezept der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode beruht auf der permanenten Unsicherheit über die Wahrheit der mit ihr gewonnenen Erkenntnisse. Dies scheint gleichzeitig ihre Schwäche zu sein. Die Wahrheit steht ständig infrage. Doch bezieht diese Methode des „Kritischen Rationalismus“ (Popper) genau daraus ihre Kraft. Jede Widerlegung einer Theorie zwingt uns zur Suche nach einer besseren.

Karl Popper hat diese Methode auf die Bewertung politischer Systeme übertragen. Ergebnis: Nur solche Gesellschaften, die sich und die in ihnen herrschenden Verhältnisse permanent kritisch überprüfen und die dabei bereit sind, sichere Wahrheiten als Irrtümer zu erkennen und zu korrigieren, sind verbesserungsfähig und entwickeln sich weiter. Popper nannte sie „Offene Gesellschaften“.

Ihre Feinde sind die einfachen, weil nicht widerlegbaren ewigen Wahrheiten totalitärer Systeme und populistischer Politiker. Sie können uns wieder „zu Bestien werden lassen“, wie Popper warnt. „Aber wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur den einen Weg in die offene Gesellschaft.“

Zur offenen Gesellschaft gehören offene Naturwissenschaften mit ihrer Reise „ins Unbekannte, Ungewisse, Unsichere“. Das Reiseziel ist die Erkenntnis der Wahrheit, also die wahre Abbildung der realen Welt und ihrer Gesetze. Auch wenn wir dieses Ziel niemals erreichen werden, so können wir doch begründet hoffen, auf dem richtigen Weg zu sein. Wir kennen keinen besseren. In unseren kleinen Gehirnen spiegelt sich schon jetzt der gesamte Kosmos wider mit seiner Geschichte und allen seinen Gesetzen, die diese Geschichte vorangetrieben haben bis heute. Niemand hat dieses Geheimnis besser beschrieben als Albert Einstein: „Das Unverständlichste an der Welt ist, dass wir sie verstehen können.“

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