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Wohnen mal anders: Vom Leben im Wasserturm

Exotischer als die Antons kann man kaum wohnen: In einem Wasserturm in brandenburgischen Nauen. Sie sind nicht die einzigen, die so leben. Doch dafür braucht man entweder Geld oder viel Zeit und handwerkliches Geschick.

Um ein Uhr setzen die Wehen ein. Ein paar Stunden krümmt sich die junge Frau auf ihrem Schlafsofa, dann, um 4:23 Uhr, ist es geschafft. Der Vater schneidet die Nabelschnur durch und legt sich mit dem Jungen, den sie Lior nennen, zur erschöpften Mutter. Genau so haben sie es sich gewünscht. Ihr zweites Kind sollte die Welt dort kennenlernen, wo sie sich am wohlsten fühlen: in ihrem kleinen Wasserturm, in dem der Regen vom rostigen Kessel tropft und der Wind durch die 100 Jahre alten Backsteinmauern pfeift.

"Seit der Uni habe ich davon geträumt, in einem Turm zu leben", sagt Jakob Richter. Der 50-Jährige mit dem sonnengebleichten Haar, abgewetzter Jeansjacke und Lausbubengrinsen sitzt am Holztisch seiner Wohnküche und erzählt, wie er in Weimar Musik studierte und abends im Studentenclub Waldhorn spielte. Sein mittlerweile dreijähriger Sohn Lior rennt in Gummistiefeln um das gusseiserne Fallrohr in der Mitte des Raumes. Liors Mutter, Ende 20, sitzt auf dem Sofa, auf dem sie ihn zur Welt gebracht hat, und wärmt ihre Hände am Kaffeebecher.

Der Sommer hat sich aus der Uckermark verzogen, und der kleine Gasofen müht sich, den zugigen Turmschacht zu heizen. In der runden Wohnküche sieht es aus wie im Häuschen von Pettersson und Findus. Von einem Hirschgeweih baumelt eine selbst gebastelte Vogel-Strauß-Marionette, über dem Klavier hängt ein alter Bassbogen. "Damit spiele ich singende Säge", sagt Richter und erklärt, wie man mit dem Bogen über das Blatt einer großen Schrotsäge streicht, um ihr ihre Melodie zu entlocken.

Von 1913 bis 1945 füllte der Wasserturm die Tanks der Dampflokomotiven auf der Eisenbahnstrecke Templin-Fürstenwerder

Er steigt die staubige Eisentreppe hinauf, sein Zigarettenrauch wirbelt im Licht, das durch die zersprungenen Fenster fällt. "Zu genau gebaut!", sagt er. Wenn er geahnt hätte, wie lebendig diese alten Steinmauern sind, hätte er den Scheiben mehr Spielraum gelassen. Eine wackelige Leiter führt vom zweiten Stock des Turms ins Innere des Wassertanks, fünf Meter im Durchmesser, vom Rost zerfressen und durchlöchert. Auf den oberen Rand des Kessels hat er ein Holzgerüst gesetzt. "Ein dauerhaftes Provisorium, wie so vieles hier." Auf dem Gerüst stehen ein Tisch, zwei Stühle, eine leere Flasche Rotwein und ein Fernglas.

Von hier oben blickt man über endlose Weizenfelder, auf den Melkbetrieb, das Sägewerk – und die verlassenen Gebäude des ehemaligen Bahnhofs. Von 1913 bis 1945 füllte der Wasserturm die Tanks der Dampflokomotiven der Eisenbahnstrecke Templin-Fürstenwerder. Nach dem Krieg nahmen die Russen die Gleise als Reparationszahlungen mit, der Bahnhof wurde stillgelegt. Ein halbes Jahrhundert witterte der Turm vor sich hin.

1998 hatte auch Richter seine Aufgabe verloren. Im Berliner Metropol-Theater, für das er jahrelang gespielt hatte, fiel der letzte Vorhang, und der arbeitslose Musiker machte sich auf die Suche nach seinem alten Traum. Er fand ihn im brandenburgischen Hardenbeck. Ein 500-Seelen-Ort, in dem Greise über ihre Gartenpforten blicken, wenn ein Fremder übers Kopfsteinpflaster ruckelt. 20 000 Mark, und der Wasserturm gehörte ihm. Seit elf Jahren baut er an seinem Turm. Und er baut wahrscheinlich auch noch die nächsten elf. Jeder Hammerschlag, sagt Richter, ist Musik für ihn.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland über 2500 Wassertürme, als Speicher für den Bedarf von Lokomotiven, Gaswerken und Textilfabriken und zum Druckausgleich im städtischen Trinkwassernetz: Die damaligen Dampfpumpen konnten den Druck in den Rohren nicht regulieren, also schloss man Türme an, die bei Überdruck vollliefen. Elektronische Pumpen machten sie im Laufe der Jahre überflüssig; von den 125 Türmen, die allein in Berlin gebaut wurden, stehen heute noch 68, in Betrieb sind nur drei. Viele dieser architektonischen Denkmäler verfallen. Bis jemand auf die abwegige Idee kommt, darin zu wohnen.

Ein Musterbeispiel professioneller Wasserturm-Sanierung steht in Nauen, 30 Kilometer westlich von Berlin: der 40 Meter hohe Wohnturm der Familie Anton. Ein gläserner Fahrstuhl gleitet den Schacht hinauf, an den sandgestrahlten Steinwänden winden sich die eisernen Stufen der alten Wendeltreppe. In den beiden halboffenen Ebenen im Schaft reihen sich Regale mit Aktenordnern aneinander. Der Fahrstuhl hält in der untersten der drei luxuriösen Wohnetagen – zehn Meter im Durchmesser, jeweils über 70 Quadratmeter. Die unteren beiden sind in Tortenstücke geschnitten, in der oberen liegt das große Wohnzimmer mit einer frei schwebenden Büroebene unter dem Dach. Hier leben die Tankstellenpächter Daniela und Oliver Anton, beide 46, gemeinsam mit Daniela Antons Eltern, zwei Hunden und zwei Katzen.

Wohnen in einem Wasserturm? Da schütteln viele den Kopf

Oliver Anton, stämmig, raspelkurzes Haar, sitzt im Holzfällerhemd am Esstisch seines 30 Meter hoch gelegenen Wohnzimmers. "Eigentlich waren wir auf der Suche nach einem Bauernhof, dann sind wir auf diese Zeitungsanzeige gestoßen": Wasserturm zu verkaufen, Baujahr 1898, Preis: 58 000 Euro. 80 Jahre lang versorgte er die Nauener mit Trinkwasser, bis die Elektropumpen ihm auch den letzten Tropfen Arbeit abnahmen und er 1978 vom Netz genommen wurde.

Als die Antons ihn im Sommer 2003 besichtigen, sind die Spuren von 25 Jahren Leerstand deutlich zu sehen: Von den Wänden blättert Graffiti, die Wurzeln des Wildwuchses sprengen langsam das Mauerwerk, und im Turmschacht nisten die Tauben. Die Antons handeln den Preis herunter und schlagen zu. Sie finden eine Architektin, die Erfahrung hat mit der Sanierung eines Wasserturms: ihres eigenen. Gemeinsam überzeugen sie das Denkmalamt von ihrer Idee, den kompletten Turmkopf abzureißen und neu zu bauen. Jetzt brauchen sie nur noch das Geld. Ein Wasserturm als Wohnhaus? Kopfschütteln bei den Bankangestellten. Erst der Zufall bringt ihnen eine wohlwollende Kreditberaterin; sie ging im Gymnasium neben dem Turm zur Schule.

Im Juli 2004 rückt die Abrissfirma an, mit Schneidbrennern zerlegen die Arbeiter den gewaltigen Wassertank. "Der Garten sah aus, als ob ein U-Boot gestrandet wäre", erzählt Anton Richter. Wochenlang suchen sie nach einem Unternehmen, das die Betonschalung des neuen Turmkopfes bauen kann. Kurz nachdem die ersten Außenwände stehen, reißt ein Orkan sie wieder ein. Am Tag des Richtfests ist der Zimmermann plötzlich verschwunden.

Nach fast zwei Jahren Bauzeit ist der Turm fertig. Und der Möbelwagen bringt die nächste Herausforderung: Nach 136 mühsamen Stufen merkt Anton, dass die neue Couch nicht durch die Tür zum Turmkopf passt. "Also haben wir sie wieder heruntergetragen und mit Seilen auf den Balkon gezogen." Der läuft in 28 Metern Höhe einmal um den ganzen Turm. Wenn er hier oben steht und in die Ferne blickt, weiß er, dass alle Mühen sich gelohnt haben: "An klaren Tagen sieht man von hier den Berliner Fernsehturm."

Wer Herr seines eigenen Wasserturms werden möchte, aber vor einer schwierigen Sanierung zurückschreckt, stößt auf ein Immobilienangebot in Zossen, südlich von Berlin: Ein 40 Meter hoher Wasserturm in ruhiger Lage, sieben Etagen, 240 Quadratmeter, 360-Grad-Panorama und eine verglaste Turmspitze als Schlafzimmer. "Die Außensanierung ist abgeschlossen", heißt es in der Anzeige, "der gesamte Innenausbau wird nach Ihren Wünschen gestaltet." Preis für den schlüsselfertigen Wasserturm: eine Million Euro.

Jakob Richter hatte keinen Schlüssel, als er im Februar 1999 die erste Nacht in seinem Wasserturm verbringen wollte. Er brach die Tür auf, trug die verrotteten Balken hinaus und begann, den kniehohen Schutt zu schaufeln. Bald hatte er genug und ging in die Dorfschänke. "Hallo, Nachbarn!" Als die Kneipe schloss, war es stockfinster. Sein Sturmfeuerzeug war leer, aber irgendwie schaffte er es zurück zu seinem Turm und fand dort seine Flasche mit dem Feuerzeugbenzin. Er zündete eine Kerze an, stieg die Treppe hinauf und räumte einen Platz für seine Luftmatratze frei. Er rollte sich in seinen Schlafsack und schlief ein, während Schneeflocken durch die offenen Fensterluken wehten.

Wer mehr über "Wassertürme in Berlin" wissen will: Unter diesem Titel ist im Regia Verlag gerade ein Buch von Jens U. Schmidt erschienen.

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