zum Hauptinhalt

Paralympics 2012: Am laufenden Band

Er wird niemals eine Medaille bekommen, auch wenn er am Ende der Schnellste ist. Denn Joseph Kibunja ist das Augenpaar, das den blinden Marathonmann Henry Wanyoike durchs Leben leitet. „Wir haben dieselbe Vision“, sagt der. Über die Schwierigkeit, Schritt zu halten.

Vorsichtig fasst Joseph den Unterarm von Henry. Sein Griff sagt: Hier geht es zu unserem Appartement. Ein leichter Druck nur, mehr ist nicht nötig, um Henry ins Zimmer zu lenken. Der Flachbildschirm ist dicht an die Wand geschoben. Henry soll sich nicht an ihm stoßen. Henry hört gern Fernsehen.

Henry Wanyoike aus Kenia ist blind, er ist Marathonläufer, und seine Augen heißen Joseph Kibunja. Sie haben ihn gerade in ein einfach eingerichtetes Zimmer im Hostel-Stil geführt, in denen die schlafen, die draußen Großes vollbringen wollen. Es ist die Herberge der paralympischen Athleten, die vom heutigen Mittwoch an in London um Medaillen kämpfen. Im Schlafzimmer der beiden Kenianer stehen zwei Einzelbetten, liegt Wäsche herum, und im Moment läuft das Radio, ein Sender aus ihrer Heimat, den sie über Internet empfangen, erklärt Joseph.

Er erklärt überhaupt sehr viel. Joseph erzählt Henry, dass der Wandschrank direkt vor ihm tiefblau ist und die Couchgarnitur hellblau leuchtet „wie das Meer in Kenia“. Henry weiß, wie das Meer in Kenia aussieht. Er, der aus dem 6000-Einwohner- Dorf Kikuju nordwestlich von Nairobi stammt, hat es früher selbst gesehen. Das war vor dem 1. Mai 1995, dem Tag, an dem er plötzlich sein Augenlicht verlor. „Da war ich 21 Jahre alt, ich hatte einen Schlaganfall, und ich dachte, jetzt ist alles vorbei.“

Aber es war nicht vorbei. Man kann sagen, dass es überhaupt erst begann. In Sydney 2000 und in Athen 2004 hat Wanyoike drei Goldmedaillen über 5000 und 10000 Meter gewonnen, in Peking wurde er Dritter. Jetzt lehnt sich der 38-jährige Läufer ins Polster zurück, er trägt Sonnenbrille, und er sagt. „Ich versuche mich zu erinnern, wie der Himmel aussah, um mir die Farbe vorzustellen.“

Seit elf Jahren sieht er mit den Augen von Joseph Kibunja, weicht der hagere Mann, der ihn um einen halben Kopf überragt, nicht von seiner Seite, lenkt ihn hierhin, steuert ihn nach dort, gibt ihrer beider Leben die Kurven, die es braucht, um die Richtung beizubehalten. Denn es gibt ein Ziel, da wollen beide hin. Auch wenn nur einer von ihnen an diesem Ziel dafür gefeiert werden wird, nur einem von ihnen bei einem Triumph die Medaille umgehängt wird. Und das wird Henry sein.

Henry gibt das Tempo vor, mit dem sie das Ziel erreichen. Joseph ist der Mann in seinem Schatten.

„6 Uhr, Morgentraining“, steht mit Edding am Schwarzen Brett im Flur. Joseph liest es Henry vor.

„Wanyoike!“, ruft Ruth Chomo, was wie Wanjeuke klingt, und klopft an die offene Zimmertür mit der Nummer 40. Sie ist Trainerin der Kurzstreckenläufer, die wohnen nebenan, den Flur hinunter. Für die 4200 Athleten der Paralympics und ihre Begleiter ist dies hier eine eigene aufregende Welt auf Zeit, in der sie die Flaggen ihrer Heimatländer an die Brüstungen der Balkone gebunden haben. „Als wir in London gelandet und im Dorf angekommen sind, habe ich die besondere Begeisterung der Menschen gefühlt. Die sind high“, sagt Henry. Auf ihn als mehrfachen Goldmedaillengewinner richtet sich besonders viel Aufmerksamkeit.

Als er Joseph Kibunja 2001 fragte, ob er mit ihm laufen wolle, da hat er ihn gelockt. „Ich habe ihm gesagt, dann könne er vielleicht einmal im Leben in ein Flugzeug steigen“, sagt Henry. Joseph nickt und sagt, „wer kommt schon in Kenia in ein Flugzeug“.

Kibunja war damals Schreiner. Er kannte Henry seit der Kindheit, sie hatten zusammen gespielt. Die Erblindung drohte aus Henry einen Ausgestoßenen zu machen, nutzlos für die Gemeinschaft. Doch sein Lauftalent bewahrte ihn davor.

Zwei Jahre brauchten sie, bis das Vertrauen beim Laufen gestimmt hat

Berühmt wurde Henry Wanyoike, als er 2000 in Sydney mit seinem vormaligen Begleitläufer Paralympicsgeschichte schrieb. Es gibt einen kurzen Filmausschnitt von diesem Moment. Er zeigt, wie Wanyoike seinen Guide, der strauchelt und torkelt und vor Erschöpfung nicht mehr weiter kann, die letzten Meter durchs Stadion zieht. Aber er, der Blinde, ist unbändig. Weil der Sehende hinterherhinkt, schreien die Zehntausenden im Stadion den Läufer zum Sieg. Geradeaus! Linksherum!

So gewann Henry Wanyoike in 15 Minuten und 46 Sekunden sein erstes Gold über 5000 Meter.

Nach dem Zieleinlauf brach der Guide zusammen, Wanyoike aber sprang überglücklich auf der Tartanbahn um den Erschöpften herum, soweit er das an der Leine konnte, die sie aneinanderband. Er brauchte einen stärkeren Läufer.

40 Zentimeter lang ist die Kordel, die sich in Schlaufen um Henrys und Josephs Handgelenke und durch ihre Finger windet. Schnell sind sie nur, wenn ihre Schritte synchron sind und sie sich wie ein vierbeiniges Wesen fortbewegen. „Ich lasse Henry durch meine Armbewegungen spüren, welche Schrittfolge wir machen“, sagt Joseph Kibunja.

„Ich brauche immer die Tuchfühlung mit Joseph“, sagt Henry.

Zwei Jahre brauchten sie, bis das Vertrauen beim Laufen gestimmt hat. „Bis wir uns richtig gefühlt haben“, sagt Joseph – wie die Armhaare reiben, die Wärme des anderen, der Atem, die Schritte.

Joseph muss reden, reden, reden, und laufen, laufen, laufen. Wenn andere Menschen vor Atemnot verstummen, ist es an Joseph, weiterzureden. Über die 42 Kilometer einer Marathonstrecke sieht man eine Menge, das zu beschreiben ist. Joseph ist Henrys Fernglas und Tourguide. Der Rasen im paralympischen Dorf – so grün wie die Vegetation in den Bergen bei uns! Am Brandenburger Tor in Berlin – fotografieren viele Touristen aus Afrika! In New York – gibt es keine Hütten wie bei uns, sondern ganz hohe Häuser!

Der Guide ist ein Künstler der Anpassung. Joseph hat seinen Tritt auf die kleineren Schritte des Marathonmannes verkürzt. Er macht sich selber klein. Hat der Begleitläufer nie überlegt, aus dem Schatten seines Nachbarn zu spurten?

„Wir sind zusammen so stark, wie wir sind“, sagt Joseph Kibunja. Dass er selbst nie eine Medaille bekommen wird, stört ihn nicht. „Das ist wie bei einer Fußballmannschaft“, sagt er, „da gibt es für elf Leute auch nur einen Pokal.“

Aber Henry gibt seinem Begleitläufer auch schon mal eine seiner vielen Siegermedaillen mit, damit er sie bei sich aufbewahren kann.

Sie treten bei Marathonläufen in Asien an, und sie veranstalten Charity-Läufe, sie haben einen Sponsor, die Standard Chatered Bank, und sie haben eine Stiftung begründet. Auch bei der bleibt Joseph im Hintergrund, denn sie trägt den Namen des Stars: „Henry Wanyoike Foundation“. Wenn sie zum Finale der Paralympischen Spiele Gold holen, bekommt Henry Wanyoike eine Prämie von 10 000 Euro vom kenianischen Staat. Das Geld teilen sich die beiden, sagt Henry. Es ist viel Geld für kenianische Verhältnisse. „Mit dem Geld, das wir erlaufen, bauen wir daheim Schulen, Kindergärten, finanzieren Ausbildungsprojekte“, sagt Joseph. „Und wir ermöglichen Kindern Augenoperationen, die sich die Familien sonst nicht leisten könnten“, sagt Henry.

Er will jetzt seine Laufschuhe holen und erhebt sich. Henry kennt bereits sämtliche Winkel seiner Londoner Unterkunft. Aber jetzt schlägt er doch mit dem Kopf gegen die Glastür. Nichts passiert.

"Giraffe von vorne!" - Warnrufe beim Training

Ausgerechnet vor den Paralympics in Peking 2004 ging es nicht so glimpflich aus. Damals wurde Wanyoike bei einem Autounfall an der linken Hand schwer verletzt. Schlimmer für ihn war, dass er Freunde verlor. „Das war extrem hart, da konnte ich nicht richtig trainieren und war mental bei den Wettkämpfen nicht bei der Sache.“ Trotzdem erliefen sich Henry und Joseph eine Bronzemedaille.

Das solle in London besser werden, sagt Henry und hat in diesem Augenblick auch seine weißen Laufschuhe gefunden, an denen noch der rote Staub seiner Heimat klebt.

„Wir laufen in Kenia jeden Tag“, erzählt Joseph, „meine Frau weckt mich manchmal, wenn ich verschlafe, damit ich Henry abholen gehe.“ Dann rennen die beiden einsamen Läufer durch die Steppe, über vertrocknete Wege, durch Gras und Schlamm. Henry spürt die Strecke. Er fühlt den Winkel, in dem seine Fußgelenke sich abknicken, er merkt, ob der Weg aufwärts führt oder abwärts. Und Joseph ruft: Achtung, Henry, Huhn von links! Oder: Kuh von rechts! Oder: Giraffe von vorne!

„In Europa brauche ich vor so etwas keine Angst zu haben“, sagt Henry, „da kann ich noch schneller rennen.“

Zu Hause in Kenia sind Henrys Frau und seine vier Kinder ständig dabei, wenn er läuft. Viele seiner Rennen werden im Internet übertragen. Es kommen sogar Filmteams nach Kikuju, wo die Kinder zu Wanyoike sagen, „wenn wir groß sind, wollen wir werden wie du.“ Für den Kinofilm „Gold“ ist auch die Crew von Regisseur Andreas Schneider in das Dorf gereist, um das Leben und harte Training der Marathonzwillinge zu dokumentieren. Nächstes Jahr soll der Film, der von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) initiiert wurde, in die Kinos kommen.

Wie Josephs Frau es findet, dass ihr Mann stets fort ist? In einer Mail versucht sie es zu erklären. „Unsere Kinder, acht und fünf Jahre alt, vermissen ihren Vater Tag und Nacht“, schreibt Caroline Wairimu. „Ich bin aber nicht neidisch, dass Joseph mehr Zeit verbringt mit Henry als mit mir.“ Er sei ein sanfter und liebender Ehemann und Vater, wie man „einen aus einer Million findet“. Außerdem liebe Joseph Henry auf seine Weise, über den Sport. „Ich liebe meinen Mann Joseph auch, weil er sein Leben jemand anderem widmet. Er ist ein unbesungener Held, und er möchte selbst gar keinen Ruhm.“

Jetzt hält es die beiden Sportler nicht mehr in ihrem Zimmer. Sie wollen hinaus, ins Paralympische Dorf. Hinab geht es mit dem Fahrstuhl. Die Türen der Nachbarn klappern, es ist hellhörig in den Appartements, die schnell hochgezogenen Musterwohnungen ähneln. Wie das aber Henry Wanyoike erklären? „Da ist Holz am Boden“, sagt Joseph. Er führt Henry am Arm. Am Schwarzen Brett steht: 9.30 Uhr, Kirche. Früher waren Hölzer, Bretter und Nägel Joseph Kibunjas Beruf, jetzt heißt sein Beruf Henry Wanyoike.

Draußen strömen Athleten in ihren Trikots vorbei. Eine Gruppe Kenianer hält die Männer an, macht Fotos, sie haben für die beiden gebetet, sagen die Fans. Joseph strahlt. „Ich bin glücklich, es macht mich zufrieden und froh, für Henry da zu sein.“ Er könnte zwar nicht gucken, sagt Henry, „aber wir haben dieselbe Vision“.

In der Dunkelheit kenne sich Henry besser aus, sagt Joseph, wenn es dunkel geworden ist nach dem Training. Dann hilft der Blinde dem Sehenden mit seinem Taststock auf dem Weg zu seiner Frau und der Familie nach Hause.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false