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Architekturpreis 2016 - Berlins beste Bauten: Denkfabrik im Hinterhof

Mit einem aufregenden Ensemble erfindet das Büro Chipperfield die Berliner Mietskaserne neu.

Der so naheliegenden Lösung muss man erst einmal widerstehen können. Einfach einen Riegel quer in den langen Hof stellen, zwischen dem rot-gelb geklinkerten Fabrikgebäude hinten und der Straßenfront. Aber das wäre eben keine Lösung gewesen – außer für einen Investor, der eine möglichst hohe Flächenausnutzung anstrebt. Deswegen gibt es auf dem Grundstück in der Joachimstraße 11 in Mitte nun diese aufregende Perspektivlinie, die den Blick fast zwingend vom Eingang an den zwei grauen Betonkörpern vorbei führt bis hin zur fünfgeschossigen Sprossenfenster-Fassade der einstigen Klavierfabrik.

Ein offener Raum ist hier entstanden, der Gedanken und Ideen ihre Entfaltungsmöglichkeit gibt. Genau das also, was man benötigt im Büro des Architekten David Chipperfield. Das Berliner Büro ist inzwischen die personalstärkste Niederlassung des weltweit aktiven Architekten, noch vor dem Standort London. Hier werden Projekte in aller Welt betreut. Viele Mitarbeiter sind aber derzeit mit dem Bau der neuen James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel befasst, wo gerade Richtfest war.

Rund 120 Menschen arbeiten in den fünf Gebäuden: in einem Altbau, der bis nach der Jahrtausendwende als Ruine auf einer Stadtbrache stand, und in den hinzugefügten vier schlichten Kuben. Die Neubauten haben auf dem Grundstück einen fließenden und öffentlich wirkenden Hofraum geschaffen, der an die historische Mietkasernenstruktur gemahnt, die es hier einmal gegeben hat, bevor die Bomben fielen, ohne aber die Enge der abgeschlossenen und finsteren Hinterhöfe wiederaufleben zu lassen.

An Verluste erinnern, und trotzdem Neues wagen, heißt die Devise

„Wir wollten die Zerstörung auch sichtbar machen“, sagt Alexander Schwarz, Design Director und Partner von Chipperfield. Er hat das Ensemble entworfen – und die anderen vier Direktoren des Büros hätten die Ansprüche der Bauherren vertreten. Wenn Bauherren selber planen wollen, das ist das Schlimmste, witzelt der hochgewachsene Mann mit dem grauen Haarzopf. Demokratische Strukturen eben. „Deswegen hat es ziemlich lange gedauert“, sagt Schwarz und lächelt ein wenig mokant. Man ahnt die Debatten unter Fachleuten. Über sechs Jahre lagen zwischen Projektbeginn und Fertigstellung. Mit Zerstörung positiv umgehen, an Verluste erinnern, und trotzdem Neues zu wagen, ist im Büro Chipperfield ein zentrales Arbeitsthema. Von diesem Gedanken ist etwa die grandiose Rekonstruktion des Neuen Museums getragen, wo sichtbar gebliebene Kriegsschäden und moderne Elemente eine aufregende Spannung erzeugen.

Wenn Schwarz davon spricht, dass man eine „ziemlich radikale Betonarchitektur“ angestrebt habe, klingt das keineswegs brutal, sondern nahezu liebevoll. In der Tat hat das Ensemble, komplett gebaut aus einschaligem Dämmbeton, dem Lunker und Einschlüsse eine bewegte Oberfläche verleihen, nichts abschreckendes, sondern wirkt einladend und offen. Das wird von den riesigen Fenstern mit den filigranen Sprossen unterstützt, die geschossweise versetzt sind. Diese Anordnung der Fenster macht die einfachen Grundrisse lebendig und ermöglicht abwechslungsreiche Durchblicke.

In den großen Sälen der einstigen Pianofabrik arbeiten die Mitarbeiter unter historischen preußischen Kappendecken. Ein bis ins Kellergeschoss abgesenkter Hof gibt der Modellwerkstatt genügend Licht für die filigrane Arbeit. In der früheren Fabrik erinnert das Treppenhaus noch an die Kriegsschäden. Die Wände sind ausgebessert; geblieben ist die ausgeblichene Bemalung mit schwarz-grünen Bordüren und die historischen Handläufe.

Auch die Neubauten, mit hohen Decken, unverkleideten Betonwänden und Böden aus geschliffenem Estrich, nehmen die Raumstruktur der Fabrik auf. In jeder Etage gibt es nur einen Raum; auf Zwischenwände wurde komplett verzichtet. Im Außenbereich mit historischem Kopfsteinpflaster schafft die Grünplanung einen Kontrapunkt zum strengen Beton.

Die Kantine mit Terrasse ist der zentrale Ort

Wenn es nur nach Wirtschaftlichkeit gegangen wäre, sagt der aus Süddeutschland stammende Architekt Schwarz, „hätten wir das nicht machen können“. Auch die Selbstbeschränkung auf zwei Geschosse bei den im Innenbereich liegenden zwei Neubauten gehört dazu. Das unterstützt den offenen Charakter des Hofs. In einem der beiden Kuben ist die Kantine untergebracht, nicht nur zur Mittagszeit zentraler Treffpunkt. In den zwei Stockwerken, mit langen Tischen im Obergeschoss, geht es den ganzen Tag lebendig zu. Im Sommer kann man davor auf Bänken unter dem Laubdach sitzen.

Die Kantine ist zum Anziehungspunkt für viele Beschäftigte aus der Umgebung geworden. „Wer zur Kantine kommt, soll nicht immer nur über Architektur sprechen“, sagt der gelernte Geigenbauer Schwarz, um damit seinen Begriff von „expressiver Bescheidenheit“ von Architektur zu illustrieren. Es gäbe Architektur, die wolle auf jeden Fall auffallen – „das ist nicht unsere Ambition“. So fügt sich auch die Fassade zur Straße, trotz des glatten Betons und der großen Glasflächen, recht harmonisch ein zwischen die daneben stehenden Gründerzeit-Altbauten – mit nur drei Geschossen und gleicher Traufhöhe. Nein, betont Schwarz und gestikuliert mit den schlanken Händen, Architektur dürfe nicht egozentrisch sein. „Damit ein Bau individuell ist, muss nicht alles anders sein.“

Zur Straße hat David Chipperfield ein privates Apartment. Auch hier gibt es nur einen großen Raum. Die Küche ist nur teilweise abgeteilt durch einen Raumteiler, in der auf der einen Seite Küchengeräte und auf der anderen Seite zum Wohnzimmer hin eine Bücherwand untergebracht ist. Hier trifft man sich regelmäßig am langen Tisch und diskutiert. Noch ein Raum für Ideen also.

Weitere Kandidaten für den Architekturpreis Berlin 2016 finden Sie hier.

STIMMEN SIE AB!

Der Architekturpreis Berlin 2016 prämiert Bauten, die kürzlich in Berlin fertiggestellt wurden. Der Preis ist deshalb eine Leistungsschau des guten Bauens. In Kooperation mit dem Verein „Architekturpreis Berlin“ präsentiert der Tagesspiegel in einer Serie zahlreiche Bewerbungen. Wir zeigen, welche architektonische Vielfalt möglich ist und was Bauherren mit Anspruch leisten können.

Sie sind gefragt – bei der Vergabe des Publikumspreises. Unter www.tagesspiegel.de/Architekturpreis können Sie sich in der interaktiven Landkarte bei jedem Projekt einklicken und dann alle Bewerbungen mit weiteren Informationen und Fotos anschauen. Abstimmen können Sie bis 16. Mai. Eine Anmeldung ist nur für die Stimmabgabe nötig.

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