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Der künftige Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel: Während der friedlichen Revolution erwachsen geworden

Andreas Geisel, der derzeitige Bezirksbürgermeister von Lichtenberg, wird Stadtentwicklungssenator. Als er mit seiner Familie beim Italiener saß, klingelte das Telefon und Michael Müller bot ihm den Job an. Geisel hat nur 20 Sekunden überlegt.

Als Andreas Geisel 19 war, warnte ihn sein Vater vor dem Besuch: „Sie kommen Morgen, sag’ dann ’Nein!’“. Hinterfragt habe er das damals nicht, sagt Geisel heute, er tat, was sein Vater ihm riet. Die Stasi-Männer zogen ab – und kehrten nie zurück. Deshalb gibt es auch keine Akte über ihn, den heutigen Bezirksbürgermeister von Lichtenberg, der Mitte Dezember Berlins neuer Senator für Stadtentwicklung und Verkehr wird.

Dass Geisel es wird, was bis zu diesem Freitag fast niemand wusste, erfuhr er vor vier Wochen. An einem Dienstag saß er mit seiner Frau und den beiden Töchtern (16 und 12 Jahre) beim Italiener, als das Telefon klingelte und Berlins designierter Regierender Bürgermeister Michael Müller ihn fragte. „20 Sekunden habe ich überlegt“, sagt Geisel. Aber er habe schnell „den Gestaltungswillen gespürt“. So eine Chance bekommt man nicht oft im Leben. Er sagte zu.

Geisel ist ein höflicher Mann, kräftig, die dunklen Haare zur Seite gescheitelt. Das politische Gewicht, das er nun trägt, ist ihm noch nicht zur zweiten Haut geworden: Er lässt sich noch ein, lässt noch mit sich reden. Oder liegt das daran, dass er „Ossi“ ist? „Stimmt“, kontert er, er treffe manchmal auf Leute, für die das noch etwas bedeute. Er selbst habe sein ganzes Arbeitsleben in der Bundesrepublik verbracht – „und die Deutsche Einheit findet bei uns täglich statt, meine Frau ist nämlich aus Hameln“, eine Westdeutsche.

Nachrichtentechnik hat Geisel zu DDR-Zeiten gelernt, nach der Wende an der Humboldt-Universität noch ein Studium der Volks- und Betriebswirtschaftslehre hinten drangehängt. 1990 trat er auch in die SPD ein. Fast so lange kennt er Christian Gaebler, der nun als Staatssekretär unter seiner Leitung dienen muss. Ob er nicht Sorge hat, dass da Neid aufkommt? Gaebler wurde schließlich selbst auch als möglicher Senator gehandelt. Geisel lächelt und sagt: „Hab’ schon eine SMS von ihm bekommen, wir freuen uns aufeinander.“ Alle drei Staatssekretäre aus seiner neuen Verwaltung will er im Amt lassen. Er kennt sie, weil er als Bezirksstadtrat oft mit ihnen über die Stadtentwicklung verhandelte, und er schätzt sie. Und das große Thema bleibt ja auch: Das Soziale und die Solidarität in der so stark wachsenden Stadt.

Erschrocken ist er manchmal, wenn er auf Fotos aus Kinderzeiten die tristen grauen Häuserzeilen sieht, „weil meine Erinnerungen an die Kindheit bunt sind“. Als Jugendlicher habe man eben manche Dinge nicht so gesehen, wie sie heute erscheinen. Fast klingt da so etwas wie Nostalgie heraus. Doch das bemerkt er wohl selbst, jedenfalls fügt er schnell hinzu: „Erwachsen wurde ich in der Zeit der friedlichen Revolution.“ Und das ist fast schon alte Schule, Dialektik: 23 war Geisel, als die Mauer fiel, da war die Kindheit endgültig vorüber, „aufgehoben“. Das Ende einer Zeit der Unschuld in einem Staat, in dem sich so mancher schuldig machte an seinem Nächsten.

„Die DDR war eine politische Diktatur und ein Unrechtsstaat.“ Für Geisel ist das ausgemacht. Die Worte schießen aus ihm heraus, als wolle er an seiner Gesinnung bloß keinen Zweifel lassen. Vielleicht ist er aber auch deshalb in diesem Punkt so kategorisch, weil er so viele Jahre in „seinem“ Bezirk brauchte, um die „politische Wende“ gegen die Linke durchzusetzen, wie er seinen Weg an die Macht nennt. Im Jahr 1995 sei er dazu angetreten, als jüngster Bezirksstadtrat Berlins – „ich war drei Monate jünger als Wowereit zu seiner Zeit in Tempelhof“. Erst sechzehn Jahre später war es so weit. Warum die Ablösung der Linken als stärkste Kraft im Bezirk so wichtig war? „Weil sich das Image ändern musste, um den Wegzug zu stoppen und Investitionen zu bekommen“, sagt er und spricht so, wie es seine Koalitionspartner von der CDU nicht besser könnten.

Gibt es auch etwas, was er bedauert, rückblickend? „Nicht genug Zeit für meinen sterbenden Vater gehabt zu haben“, sagt er. Der Vater, der ihn so prägte, der für ihn und seine Schwester vieles entschied, sogar den Weg, den er im Beruf einschlagen sollte. Von dem dominanten Vater, der auch „lustig“ sein konnte, löste er sich, um seinen eigenen Weg zu gehen. Es war die Zeit der politischen Wende, die für Geisels auch eine private war. So wie das Private immer auch politisch ist, für Deutsche aus dem Osten noch öfter. Aber es gibt eben die Gegenwart, geprägt vom Kalender. Die Verpflichtungen. In diesem eng getakteten Alltag muss er sich heute noch Freiräume erkämpfen, etwa für die Familie. Dann sitzt er da, „als einer von wenigen Männern“, bei Elterntreffen der Schule oder auf einem Konzert seiner Töchter.

Am Abend, zur Verleihung der Bürgermedaille an Ehrenamtliche, legt er ein letztes Mal die Bürgermeisterkette mit den großen Gliedern an. Dann fliegt er nach Maputo in Mozambique, Lichtenbergs Partnerstadt. Auch das ein Erbe der Vergangenheit: Dort kamen fast so viele Gastarbeiter her wie aus Vietnam. Freundschaften entstanden. Die Kleingärtner aus Hohenschönhausen haben Geld gesammelt. Es war nicht, ach was, es ist nicht alles schlecht – gewesen.

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