zum Hauptinhalt

Köchin Sarah Wiener: Der Herd als Symbol der Selbstfindung

Hoffnung ist erst wieder, wenn ein Huhn 15 Euro kostet, sagt Sarah Wiener, Köchin und Zum-Kochen-Aufforderin. Für die Rückwärtsrevolutionärin ist der Herd keinesfalls Symbol einer mehrtausendjährigen Dauerdemütigung, sondern eines der Selbstfindung und des Stolzes.

Die wichtigsten Dinge im Leben kann man sich nicht aussuchen. Zum Beispiel seine Eltern. Es gehörte gewiss viel pränataler Mut dazu, das Kind des Trompeters der Wiener „Wirklichen Jazzband“ sowie der Jazzband „Jesus Christbaum“ zu werden. Auch weil der Student der Rechtswissenschaft, der Musikwissenschaft, verschiedener afrikanischer Sprachen sowie der Mathematik Oswald Wiener es bald nicht mehr beim Trompete-Spielen belassen würde.

Im Juni 1968 hielt er an der Wiener Universität den künstlerisch-philosophischen Vortrag „Über den Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen“, begleitet durch ein vollkommen authentisches Notdurft-Happening seiner beiden engsten Künstlerfreunde. Vielleicht um den bislang übersehenen Ausscheidungscharakter des Sprechens sowie mitunter auftretende Konsistenzähnlichkeiten zu betonen. 1968 dauerte in Österreich genau einen halben Frühsommertag. Alle Anal- und-Oral-Referenten verbrachten den Rest des Frühsommers hinter Gittern. Das Hauptwerk Oswald Wieners heißt „Die Verbesserung Mitteleuropas“.

Berlin. Leibniz-Saal. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Was für ein dynamischer, energetischer Unterkiefer! Und wie er vorschnellt. Unterkiefer können schön sein, Oswald Wieners Tochter ist der Beweis. Man glaubt schon nicht mehr daran, dass der Agrarexperte Doktor Prinz von Löwenstein sich auf seinem Sessel würde halten können, da schwenkt das Kind des österreichischen Grundsatzreferenten in drei halben eleganten Ellipsen zurück, um nun sehr friedfertig aber bestimmt zu erklären: „Wir haben zu viele Autos. Wir müssen zwei Drittel der Autos abschaffen.“ Starker Beifall. Das ist seltsam, denn dies hier ist keineswegs die Jahreshauptversammlung der Fußgänger der Erde, es ist vielmehr ein Podium zur Frage „Was essen wir morgen?“, und alle Sachverständigen sehen sehr bekümmert aus.

Normalerweise geht Sarah Wieners Auto-Satz nämlich noch weiter: Wenn eine Stunde Parken in der Hamburger Innenstadt teurer ist als ein Huhn, dann ist das ein Zeichen, ein Brandzeichen an der schwarzen Weste unserer Kultur. Neben Sarah Wiener sitzt eine zweite Frau mit Unterkiefer. Es ist Renate Künast. Beide kommen schnell überein, dass erst wieder Hoffnung sei, wenn ein Huhn 15 Euro kostet. Das Auditorium blickt verhalten skeptisch bis frenetisch einsichtsvoll. Der Moderator formuliert: „Wie also schaffen wir es, dass ein Huhn 15 Euro kostet?“ Sarah Wiener und Renate Künast bemerken ein leicht ungläubiges Tremolieren der Moderatorenstimme, seine eigene Frage betreffend, und erklären sinngemäß, dass dieser Preis sowohl die Wahrheit als auch die Würde des Huhns sowie unsere eigene Würde widerspiegeln würde.

Und niemand solle glauben, es sei fünf vor zwölf, um uns und unsere Ernährungsweise noch zu ändern. Zehn Sekunden vor zwölf sei es!, verkündet Wiener mit endzeitlichem Charme. Beifall. Ermutigt ruft sie noch ein „Worauf haben wir denn jemals verzichtet?“ in den Saal, um sich wieder weit vorzubeugen, so als wolle sie jeden Einzelnen im Auditorium umarmen. Doch stattdessen öffnet sie die schmalen ausgestreckten Hände weit und schließt sie wieder, als müsse sie etwas Großes, etwas Ungreifbares und dabei doch ganz Naheliegendes umklammern. Da meint man schon, ihren Satz „Braucht man mehr Glück, als zwei Hände umfassen können?“ wieder zu hören, aber jetzt sagt sie etwas anderes: „Wenn wir teilen können, wird für alle gedeckt sein!“

Man teilt sein letztes Brot in Notzeiten. Aber was um Himmels willen sollen Kinder des Überflusses teilen? Die Fragen lauten: Anders als Revolutionen fressen Revolutionäre zwar nicht ihre Kinder – was aber machen sie dann mit ihnen? Und unter welchen Umständen werden aus den Kindern der Revolutionäre wieder Revolutionäre? Es spricht viel dafür, dass Sarah Wiener es nicht wie ihr Vater bei der Verbesserung Mitteleuropas belassen will.

Eigentlich hat sie sich für die friedfertigste, unpolitischste Tätigkeit überhaupt entschieden: Sie kocht. Hat man je von einer Rebellion gehört, die in der Küche begann? Wer kocht, macht keinen Aufstand. Bei dem finden alle Revolutionen, die wirklich zählen, auf der Zunge statt. Oder es gibt doch noch eine andere Verbindung zwischen beiden.

Es gehörte schon viel Vertrauen in die eigene Unfehlbarkeit dazu, das erste eigene Restaurant in einem Berliner Hinterhof abseits der Hauptwege einzurichten und es einfach „Das Speisezimmer“ zu nennen. „Das Speisezimmer“ wurde 1999 eröffnet, gegenüber ist ein Friedhof, der Dorotheenstädtische.

„Eine wirklich politische Tat ist, so dumm es klingt, selber kochen.“

Die frühere Lokfabrik hat große Fenster, vor den backsteinbloßen Wänden hängen große alte Kronleuchter. Sarah Wieners Tisch steht an der Wandseite in der Mitte. Sie sitzt da, in einem blaugrünweißen Kleid, das auf berückend einfache Weise kompliziert, also elegant ist. Und wo bei anderen Menschen der Bauch beginnt, ist sie statt konvex konkav. Dabei hat sie das ganze letzte Jahr der Küche ihrer Heimat gewidmet, Schwerpunkt: Mehlspeisen. Sie sitzt da ganz allein, ganz still, vor sich das Inventar eines halben Büros. Nur Bürokraten brauchen für die Verwaltungsdinge des Lebens ein Büro. Sie arbeitet. Und späht. Und beantwortet das freudig-wiedererkennende Lächeln ringsum, eine huldvoll-unerbittliche Wächterin über ihr Reich. Auch kann sie sich sehr gut konzentrieren, wenn die anderen essen. Überhaupt sind die Menschen wohl beim Essen am schönsten, so gelöst, so ungefährlich, selbst die größten Polemiker werden manchmal leise, unverbissen in alles, was sie nicht gerade im Mund haben.

Doch eigentlich müsste sie alle mit einem strengen „Kocht doch selber!“ vor die Tür setzen. Denn das Kochen, sagt sie, ist nichts, was wir anderen überlassen dürfen. Ihr offenes Gesicht bekommt schon wieder den Furor des Grundsätzlichen, wenn sie vom Kochen als „elementarer Kulturleistung“ spricht, nämlich als „Fähigkeit, sich selber und andere zu ernähren“. Und eben diese schwinde, und zwar dramatisch. Ja, sie habe in Küchen geschaut, in denen es schon keine Töpfe und Pfannen mehr gab. Höchstens noch eine Mikrowelle.

Sie kennt keine Scheu, auch vor einem Ein-Personen-Auditorium Sätze zu sagen, die man eher vor großem Publikum spricht. Schon um die Kleinbürger des Lebens zu erschrecken und sie mindestens ebenso zu befremden wie jene vor 40 Jahren: „Der private Einkauf ist nicht privat!“ Oder: „Eine wirklich politische Tat ist, so dumm es klingt, selber kochen.“ Aber wen wähle ich, wenn ich koche? Und kann ein voller Mund wirklich ein öffentlicher Raum sein?

Wer Sarah Wiener zuhört, weiß bald, dass sich hier eine nicht nur von Kohlenhydraten, Eiweißen und Fetten ernährt, sondern auch von Worten, sorgfältig und wagemutig zugleich komponiert wie Zutaten. Sie waren schon immer das Grundnahrungsmittel aller Weltverbesserer, einschließlich der Mitteleuropas.

Und vielleicht waren sie auch die Elementarspeise ihrer Kindheit. Sie fasst das in die Worte „Wir hatten nichts zu fressen, aber das Bewusstsein: Wir sind Elite!“ Die Maximen, nach denen Sarah Wiener und ihre Geschwister erzogen wurden, unterschieden sich – wenn Erziehung denn hier das richtige Wort sein sollte – dramatisch von den bisher üblichen. Der kategorische Wiener-Imperativ lautete: Tu immer das Gegenteil von dem, was die Gesellschaft von dir erwartet!

Kinder sind in diesen Dingen Naturtalente. Den etwas desillusionierenden ersten Halbsatz über die spezifische Ernährungslage der Familie Wiener muss man wohl erklären: Der erste Trompeter der Jazzband „Jesus Christbaum“ und Vordenker des Wiener Weltumstürzlertums beschloss kurz vor seinem 30. Jahr, dass er wohl doch nicht für die Kunst gemacht sei und sie nicht für ihn. Also verbrannte er alle seine Manuskripte, um zu heiraten und wie andere Menschen eine Frau, Kinder und einen ordentlichen Beruf zu haben. Er brachte es weit auf dem Weg der Verbürgerlichung, wurde Kybernetiker beim Büromaschinenkonzern Austro Olivetti, wurde Abteilungsdirektor mit umgerechnet 3000 Mark Monatsgehalt, großer Stadtwohnung und teurem Wagen. Das konnte er also auch. Aber sollte das schon das Leben gewesen sein?

Als Tochter Sarah ein Jahr alt war, verließ Oswald Wiener die Familie, um in die Literatur und die Revolution zu remigrieren. Zurück ließ er drei Kinder und seine Frau, Lore Heuermann, auch sie Künstlerin, Malerin und Bildhauerin. Und Künstlerin zu bleiben, war sie sich schuldig. Sie hatte in einem großen Hotel Kochen gelernt, aber betrachtete das wohl nicht als Qualifikation, auf die eine Frau stolz sein durfte. Und was hatten die Rest-Wieners, die nun von den Einkünften einer freischaffenden Malerin lebten, schon groß zu kochen? Ich bin mit Extra-Wurst groß geworden, hat Sarah Wiener einmal bekannt.

Zwei ältere Nicht-Feministinnen nähern sich dem Sarah-Wiener-Tisch, sie tragen ihr Buch „Frau am Herd“ wie eine Trophäe vor sich her: Ob sie signiere? Natürlich macht sie das. Dass ihr Kind einmal Bücher mit solchen Titeln herausgeben würde, hat Lore Heuermann gewiss schwer irritiert. Nein, für Sarah Wiener ist der Herd nicht das Symbol einer jahrhundertelangen, ja mehrtausendjährigen Dauerdemütigung, sondern eines der Selbstfindung, des Stolzes. Nur wie weit würde es sein dorthin.

Als Kind lebte sie also wie alle Wieners weniger von Kalorien als von der Gewissheit, anders zu sein, etwas ganz Besonderes. Vielleicht entsprach dieses Bewusstsein ohnehin dem natürlichen Selbstgefühl einer ungekränkten Kindheit. Sarah Wiener schwebte in der Welt-Blase ihrer eigenen Herrlichkeit. „Und als ich 15 oder 16 Jahre alt wurde, zerplatzte die plötzlich mit einem lautlosen Blub“, sagt sie. Schwer gekränkt von sich erwog sie kurz, als Robina Hood frei im Wald zu leben, befand es dann aber doch für angemessener, zwei Wochen vorm Abitur ein paar Jungen, über deren Existenz der gleiche Schatten hing, zu überreden, mit ihr nach Sizilien zu trampen. Sie fuhren voraus, Interpol hinterher. Die Eltern der anderen besaßen nicht die Reife ihrer Mutter, den Lebensentschlüssen ihrer Kinder mit Achtung zu begegnen. Lore Heuermanns Tochter war dabei, existenziell prägende Erfahrungen zu machen.

Das Leben ist ein langer Umweg zu sich selbst, und manch einer, manch eine erreicht dieses Ziel nie. Der ihre war besonders lang und führte schafehütend, orangenpflückend durch halb Europa. „Wir brauchen mehr Chaos!“, hatte ihr revolutionärer Vater gerufen, dessen berühmtester Roman mit einem „Personen- und Sachregister“ beginnt, dem ein 170-seitiges Vorwort folgt. Seht ihr, hätte die Internationale der Kleinbürger jetzt rufen können: So enden die Kinder der Revolutionäre und der grenzenlosen Freiheit! Sie gehen unter.

„In unseren tiefsten Schichten gleichen wir wohl unseren Eltern. Schon in der Art, in der Welt zu stehen“, überlegt Sarah Wiener. Mag sein, dass Revolutionen noch nie in Küchen begonnen haben, ausgeschlossen ist es darum nicht. Vielleicht handelt es sich um eine Revolution rückwärts. Statt Aufbruch ins Unbegrenzte zurück in die selbst auferlegte Begrenzung, aus der Schrankenlosigkeit hin zur bewusst gesetzten Schranke, von der industriell normierten Ernährung und aus der Geschmacksschule der Supermärkte – Sarah Wiener spricht zur Veranschaulichung gern von der „Klärschlammbulette mit Aromastoff“ – zurück zu kleineren, regionalen Händlern.

Das Ende der DDR wurde ihr eigentlicher Anfang

„Entfremdung“ war ein Hauptwort der Generation ihres Vaters zur Denunziation des Vorfindlichen. Mag sein, dass sie in einer hochspezialisierten Welt grundsätzlich nicht aufhebbar ist, aber in Mundnähe sollte sie vielleicht doch enden. „Wir stehen an einem Scheidepunkt“, fasst die „politische Köchin“ zusammen. Das Private ist nicht privat, hatten die 68er durchschaut; sie definiert bündig: „Der Verbraucher ist ein politisches Wesen.“ Denn seine Wahl reicht ins Allgemeine, sie befestigt oder verändert Produktionsformen.

Aufklärung ist alles! Zwei junge Männer, die am Nebentisch gerade den vierten Gang – Topfenstrudel – beendet haben, wollen „Das Speisezimmer“ verlassen und nicken der Chefin zu. Die hält ihnen den Arm in den Weg: „Wo kauft ihr ein?“ – „Bei Rewe“, antwortet der erste kleinlaut. „Bei Kaiser’s“, gibt der zweite zu, damit die Strafe sie beide gleichmäßig treffe. Aber eine Chance gibt sie den beiden Mitarbeitern einer Werbeagentur noch: „Woran erkennt ihr gutes Fleisch?“ – Die Befragten sehen sich hilflos an: „An der Röte?“ In Sarah Wieners Augen geht die Welt unter.

Aber war sie denn besser, damals, als sie mit 24 Jahren in Berlin eintraf? Kein Schulabschluss, keine Berufsausbildung – es hatte sich nie ergeben –, aber ein Kind ohne Vater dazu. Die Berliner Sozialhilfeempfängerin machte, was dem Menschen in solcher Lage zu tun übrig bleibt. Sie öffnete eine Dose Ravioli in Tomatensauce für zwei. Vielleicht hat sie auch deshalb keine Scheu, den Gestrandeten der großen Städte ein herzhaftes „Kocht selber!“ zuzurufen. Für die Wiener Heilsarmee hat sie schon vor Jahren die „Heilsarmeesuppe“ kreiert. Auf Kichererbsenbasis. Sie öffnete noch manche Dose; das Leben und der Doseninhalt schmeckten gleich unspezifisch endzeitlich. „Aber irgendwann fiel mir die Kaki ein, die ich als Kind kaufte. Mein ganzes Wochentaschengeld für ein Stück Obst, und es war wunderbar“, sagt sie. Verrate nie den Geschmack deiner Kindheit!

Was nun folgte, weiß man. Sarah Wieners Vater, den sein Vortrag über den Zusammenhang von Sprache und Denken einst hinter Wiener Gitter gebracht hatte, war von dort nach West-Berlin emigriert, um in Kreuzberg das Restaurant „Exil“ zu eröffnen. Da saß er pfeiferauchend und philosophierend in der Küche, während alle um ihn herum kochten. Die Kinder der Revolutionäre sind ihre Gedanken.

Was Oswald Wiener gesagt hat, als die Berliner Sozialhilfeempfängerin vor ihm stand, ist nicht bekannt. Vielleicht: „Bist du aber groß geworden!“ Sie lernte im „Exil“, wie man Kartoffeln schält, und noch vieles andere, auch das, was ihr niemand mehr beibringen konnte. Man nennt das Kreativität.

Kochen. „Von allem, was ich nicht kann, kann ich das am besten“, sagt Sarah Wiener, und es ist höchstens zur Hälfte Koketterie. Sie kochte und buk sich aus dem „Exil“ heraus; das Ende der DDR aber wurde ihr eigentlicher Anfang. Sie kaufte aus NVA-Beständen einen zweiachsigen W 50 mit Anhänger und arbeitete fortan als Marketenderin. Nur dass sie nicht dem Kriegsvolk, sondern den Filmsets folgte. Das war Tilda Swintons Idee gewesen. Schließlich kochte und buk sie öffentlich, erst als Küchendiktatorin in der ARD-Doku-Soap „Abenteuer 1900 – Leben im Gutshaus“, dann bei Kerner, schließlich mit eigener arte-Sendereihe. Ihre Stiftung arbeitet inzwischen für den Kommunismus, den einzig möglichen: für die Gleichheit aller vor den Töpfen. Und in der Schule fängt das an.

Ihr jüngstes Projekt ist eine eigene Hühnerfarm. Sarah Wieners Hühner haben keine abgeschliffenen Schnäbel – konventionelle Haltung ist anders nicht möglich –, und auch die männlichen Küken, die nichts können außer krähen, haben ein Recht auf Leben. Und sogar auf ihre Hennen. Es kommt darauf an, etwas von der natürlichen Ordnung wiederherzustellen. Und wenn es die natürliche Hackordnung ist.

Zur Startseite