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Die Nutzer entscheiden, was sie Facebook geben, Facebook entscheidet, was es damit macht. Gründer Mark Zuckerberg.

© dapd

Facebooks „Timeline“: Angst vorm eigenen Leben

Mit der Timeline zwingt Facebook seine Nutzer, sich intensiver mit ihrer eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. Die Erinnerung wird schnell überprüfbar und ständig verfügbar - aber für Fantasie bleibt weniger Platz.

Die Zahlen sind gigantisch. 1,3 Millionen Menschen in Berlin, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, 22,1 Millionen in Deutschland, mehr als 800 Millionen weltweit – für sie alle wird bald ein Teil ihrer Welt eine andere sein. Facebook, ihr soziales Netzwerk, über das sie verbunden sind, als Fremde oder Freunde, hat ihnen ein Ultimatum verkündet: In wenigen Tagen werden ihre ungeordneten Profile auf Linie gebracht, dann wird alles, was sie jemals dort anderen gezeigt oder mit ihnen geteilt haben, Fotos oder Filme, Links oder Lästereien, chronologisch geordnet, beginnend mit der Geburt, nie endend mit dem immer neuen, dem eben letzten Tag. Aus Facebook wird ein Lifebook, das ganze Leben leicht verfügbar, viel geordneter, viel übersichtlicher als bisher, Tag für Tag, en détail und im Schnelldurchlauf – „Timeline“.

Viele Nutzer fühlen sich nicht mehr sicher, sie befürchten eine Entblößung ihrer selbst und ihrer Kinder. Wer hat da noch den Überblick? Sie spüren, dass sie sich in die Hände eines Riesen begeben haben, dem sie auf dessen technisiertem Terrain nicht gewachsen sind, der ihnen erst Stück für Stück und nun mit einem Mal die Identität raubt. Sie können jetzt Facebook verlassen und damit ihre Kontakte verlieren; oder sie lassen sich darauf ein, ihr Leben zu offenbaren – oder aber sie machen sich ganz schnell mit „Timeline“ vertraut.

Die Nutzer entscheiden, was sie Facebook geben, Facebook entscheidet, was es damit macht. So lautet der Deal. Und Facebook macht Geld mit seinen Nutzern, viel Geld, Facebook verkauft sie. Wer wäre so naiv zu glauben, Mark Zuckerberg sei Altruist? „Facebook ist und bleibt kostenlos“, so steht es auf der Startseite des Netzwerks, doch kostenlos war Facebook nie und wird es nie sein. Die Nutzer zahlen kein Geld, aber einen Preis.

Facebook kostet Zeit, und Facebook zwingt seine Nutzer, dort Zeit zu verbringen. Selbst wer nur seine „Timeline“ kurz halten will, wer die Zahl und die Art seiner Informationen und den Zugang beschränkt, ist gut beschäftigt, und ganz leicht ist es nicht. Das Leben muss auch im Netz gepflegt werden, jetzt und immer wieder, und die Frage, wer daran teilhaben soll, Dutzende, Hunderte, Tausende, mal diese, mal jene, ist ständig neu zu entscheiden.

Der Einfluss der Nutzer auf „Timeline“ ist größer, als manche ihnen einreden wollen. Die kulturellen Folgen des digitalen Lebenslaufs sind dennoch enorm. In seinem grandiosen Roman „Vom Ende einer Geschichte“ beschreibt Julian Barnes den Schock, den einer erfährt, der nach Jahrzehnten auf einen Brief stößt, einen bitteren, bösen, ihm unbekannten Brief, der das Leben von zwei ihm lieben Menschen betrifft. Er hatte ihn selbst geschrieben. Ein Teil seines Lebens war auf völliger Verdrängung gebaut. Jeder kennt das, wie sich mit jeder neuen Erzählung von Episoden des eigenen Lebens sich dieses immer selbstständiger macht. Bis vor ein paar Jahren waren echte Zeugnisse rar, oft in Kisten versteckt, Fotos, Dokumente, Notizen. Die sich verändernde Erinnerung blieb stärker. Heute ist alles schnell überprüfbar, in digitalisierten Massen ständig verfügbar. Der Erinnerung wird, wenn man so will, geholfen – und die Fantasie als solche enttarnt.

Das Basteln an der eigenen Biografie wird mit „Timeline“ zu einer neuen Kunst. Doch sie bleibt formbar, die Biografie, für einen selbst und für andere, durch Auswahl und Veränderung, bis zum letzten Tag. Das vergangene Leben wird für die Gegenwart zu einer immer bedeutenderen Beschäftigung; es gilt, dieses Leben anzupassen an jede neue Situation. Echter, im Sinne von wahrer, wird es so nicht.

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