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Frauenärztin in Kreuzberg: Der schmale Grat

Sohela Rduch-Jandi ist Frauenärztin in Kreuzberg. Sie behandelt vor allem Muslima wegen Schwangerschaft oder Abtreibung oder einer Jungfernhäutchenrekonstruktion. Zu Besuch in einer Praxis in der Moderne und Tradition verschmelzen.

Die Frau im roten Kleid atmet schwer. Sie ist schwanger. Der schwarze Holzstuhl unter ihr wirkt zu klein für ihren ausladenden Körper, den Bauch, der sich wölbt, der spannt und ihre Beine auseinanderdrückt. Auf dem Dielenboden des weiß gestrichenen Wartezimmers haben ihre drei Kinder Buntstifte und Malpapier ausgebreitet, sie sprechen französisch, ihre Heimat war einmal Nordafrika. Der Vater ist mitgekommen in diese Praxis. In ihr werden Frauen behandelt. Nun wühlt der Mann in der Handtasche seiner Frau. Als er gefunden hat, was er sucht, zieht er ein grünes ausländisches Dokument heraus. Sie greift nach dem Papier. Er wird laut, drückt ihre Schulter nach hinten, dann wird sie laut.

Die Sprechzimmertür fliegt auf. Doktor Sohela Rduch-Jandi, eine zierliche und kleine Dame, unterbricht das Wortgefecht. „Was ist hier los?“ Ihr Blick ist auf die Ehefrau gerichtet. „Sie haben mich doch gebeten“, sagt diese, „meinen Mutterschaftspass mitzubringen.“ Er wolle ihr den Pass aber nicht geben. Ihr Mann baut sich auf, groß und breit, mit Bauchansatz. Seine Wut macht ihn noch größer. „Ich bin der Bestimmer, ich sage, was gemacht wird. Sie müssen mich fragen.“ Er wiederholt diesen Satz noch einmal. „Sie müssen mich fragen.“

Die Ärztin fixiert ihn mit ihrem geraden Blick, ihre Autorität braucht keine Lautstärke. „Wenn Sie Ihre Frau weiterhin so behandeln, verlassen Sie sofort meine Praxis.“ Dann legt sie ihre Hand auf die Schulter der Schwangeren und sagt: „Sie aber bleiben!“ Er verstummt. Für’s Erste.

Sohela Rduch-Jandi ist Ärztin, Frauenärztin. Aber eigentlich ist sie Expertin noch für etwas ganz anderes. Ihre Patientinnen sind Muslimas und kommen oft aus einer anderen Welt zu ihr. Diese Welt befindet sich nur ein paar Meter neben der, die die Berliner als die ihre betrachten würden. Manchmal ist die Kluft gar nicht zu erkennen. Aber es gibt sie, und in der Praxis von Doktor Rduch-Jandi zeigt sie sich. Und nicht nur daran, dass ein Ehemann mal laut und grob wird.

Die meisten muslimischen Männer kommen aus Fürsorge mit, sagt die Ärztin, sie übersetzen, wollen an der Entwicklung ihres ungeborenen Kindes teilhaben. Ein kleiner Teil von ihnen sei aber, wie sie es sagt: „unangenehm neugierig“. Sie wollten nicht wissen, sondern kontrollieren, Männer mit „hierarchischem Denken“ seien das. Sie begleiten ihre Frauen selbst bei Routineuntersuchungen und folgen ihnen bis ins Sprechzimmer. Zunächst um sich zu vergewissern, dass eine Ärztin und nicht ein fremder Mann in einem weißen Kittel ihre Ehefrauen abtastet, später um zu kontrollieren, dass ihre Frauen nicht etwa ohne ihr Wissen verhüten. Diese Ehemänner sind hier unerwünscht. „Meine Patientin ist die Frau.“

Schutz der Frauen, auch gegen Traditionen

Es ist ein so einfacher Satz. Selbstverständlich ist er nicht. Seit rund 20 Jahren arbeitet die gebürtige Iranerin in ihrer Gemeinschaftspraxis in Kreuzberg, oben Sprechzimmer, unten Tagesklinik, ein Altbau mit stuckverzierten Decken in direkter Nachbarschaft zur Betonarchitektur am Kottbusser Tor. In den Augen vieler Muslime aus dem Viertel stellt die Praxis eine Gefahr dar. Die Stimmung ist aufgeheizt. Auf der Straße ist Sohela Rduch-Jandi beim Verlassen ihrer Praxis schon angegangen worden. Sie wird beschimpft. Männer werden laut.

Die Stadtforscher des Planungsbüros Topos haben in ihrer aktuellen Sozialstudie nachgezählt: Mehr als 50 Prozent der rund 43 500 Bewohner des Stadtteils sind Migranten. Das Wartezimmer der Frauenarztpraxis ist ein Spiegel dieses Viertels. Neben deutschen Frauen und Studentinnen, die es aus aller Welt nach Kreuzberg gelockt hat, sitzen viele Türkinnen, Araberinnen. Es sind Frauen, über die es heißt, dass sie sich auf Druck ihrer Familien Kopftücher umbinden, dass sie kein oder nur schlechtes Deutsch sprechen, dass sie sich abgrenzen, Blicke meiden, verschüchtert sind. Zu Sohela Rduch-Jandi müssen sie aber sprechen, über sich selbst, über ihre Beschwerden und Probleme.

Viele der Frauen hier sind von Verwandten und Freunden geschickt worden. Die wissen, dass Sohela Rduch-Jandi Persisch, Französisch, sogar ein bisschen Türkisch spricht. Was auch immer die muslimischen Frauen bedrückt oder hat krank werden lassen, es wird hinter verschlossener Tür besprochen, von Frau zu Frau: Schwangerschaften zur Fastenzeit, Schwangerschaftsabbrüche nach dem dritten, vierten oder fünften Kind, mit und ohne Wissen des Vaters, Rekonstruktion des Jungfernhäutchens. Die Ärztin bewegt sich ständig auf einem schmalen Grat. Auf der einen Seite steht der Schutz der Frau. Sich über Traditionen hinwegzusetzen auf der anderen.

Neben ihrem Stamm an türkischen Frauen kommen die meisten muslimischen Patientinnen derzeit aus Syrien und Afghanistan. Sie sind vor dem Krieg in ihren Ländern geflohen wie Shamin, die im Sprechzimmer der Ärztin an dem dunkelblauen Stoff an ihrer Stirn nestelt. Die Afghanin trägt einen Tschador, ein langes Kopftuch, es bedeckt ihre Ohren, schlängelt sich um ihren Hals, ruht schließlich auf ihren Hüften. Shamin schwitzt. Noch einmal zupft sie am Saum und zieht ihn nach hinten. Hier darf sie das: ihre dunklen, braunen Haare zeigen. Auf der gegenüberliegenden Seite des schwarz furnierten Tisches sitzt Sohela Rduch-Jandi. Sie spricht persisch. „Sie haben Kinder?“

„Ja, aber nur zwei sind mit mir in Deutschland.“

„Wo sind die anderen?“

„Die anderen zwei sind in Pakistan, bei ihrem Vater.“

Ob sie denn Schmerzen habe?

„Nein“, sagt Shamin. „Ich möchte Ihnen die Wahrheit sagen, ich habe vor zwei Jahren abgetrieben.“ Sie habe damals in Afghanistan Misoprostol eingenommen, eine Abtreibungspille. Sie wolle wissen, ob sie noch fruchtbar sei.

„Wollten Sie oder Ihr Mann das Kind nicht haben?“

Es sei wegen ihrer Flucht gewesen, darüber wolle sie aber nicht sprechen, über ihre Flucht. Von Afghanistan ging es über Pakistan nach Europa, ihr Mann blieb zurück. Die Frauenärztin stellt keine Fragen mehr. Sie bittet ihre Patientin zur Untersuchung in den Nebenraum, rechts Gynäkologenstuhl, links Ultraschall, sie macht die Tür zu.

Integration bedeutet nicht das Kopftuch legen zu müssen

Die Flüchtlingsfrauen sind oft verängstigt. Und sehr den Traditionen verhaftet. Sie lassen sich nur von einer Ärztin untersuchen, und dann sprudelt es plötzlich aus ihnen heraus, und sie erzählen etwa von einem wochenlangen Fußmarsch über einen Gebirgspass am Hindukusch, von ihren Abtreibungen und von Vergewaltigungen auch. „Ich kämpfe manchmal mit den Tränen“, sagt die Ärztin. Oft helfe aber schon das Zuhören. Erst danach ließen sich die Frauen untersuchen, denen sie beim Abtasten einmal, zweimal, dreimal versprechen müsse, dass es nicht wehtun werde, dass sie keine Angst zu haben brauchten.

Die Frauenärztin behandelt Flüchtlinge kostenfrei. Sie besteht nicht auf Papiere, die vielleicht nicht vorhandenen Krankenscheine und Ausweise. Denn sie ist eine von ihnen. Mitte der 50er Jahre kam Sohela Rduch-Jandi, heute 61 Jahre alt, selbst als Flüchtlingskind mit ihrer Mutter von Teheran nach Ost-Berlin. Ihr Vater war Journalist, er kritisierte zu oft und zu laut die mangelnde Chancengleichheit unter der ehemaligen Schah-Regierung im Iran, er wurde eingesperrt, elf Jahre lang. Seiner Ehefrau, einer Sprachwissenschaftlerin, blühte ein ähnliches Schicksal. Sie ließ Reisepässe fälschen, kaufte Flugtickets, verließ ihre Geburtsstadt Teheran, die sie nie wiedersehen sollte. Ihre Tochter nahm sie mit. Sohela Rduch-Jandi, damals knapp zwei Jahre alt, hieß fortan Farschid Radchichi, so stand es in ihrem Reisepass, dem gefälschten.

Sie wuchs ohne Vater auf. Ihre Mutter sagte immer zu ihr, sie müsse keine Angst haben, wenn Beamte nach ihrem Namen fragten, sie müsse ihn lediglich auswendig lernen. Das tat sie auch. Erst zwei Jahrzehnte später, mittlerweile Studentin der Medizin, bekam sie in der iranischen Botschaft einen neuen Pass ausgestellt, einen mit ihrem richtigen Namen. Wenn man sich fragt, warum eine so zierliche Frau dem Zorn großer Männer entgegentritt, dann liegt die Antwort vielleicht in dieser Geschichte. Sie beschloss, kein Angst zu haben.

Sie hat gelernt, direkt zu sein, hinzuschauen, zu sagen, was ihr gefällt und vor allem was ihr nicht gefällt. Damals vor nun bald 20 Jahren, als Sohela Rduch-Jandi in ihre Praxis einzog, da gab es drei Gemüseläden und eine Schlachterei in der Straße. Ihre Patientinnen kamen zum Großteil aus der Türkei, Arbeiterfamilien der ersten und zweiten Generation. Die tägliche Herausforderung bestand darin, die Zeichen der Frauen zu deuten, die mit ihren Fingern auf ihre Brüste oder Bäuche drückten. Dann tat da etwas weh. Am Anfang hat sie für einige solcher Schmerzen keine medizinische Erklärung gefunden. Heute weiß sie, dass die Lebensumstände wehtun können.

Eine junge Muslimin tippt Botschaften in ihr Smartphone, die weiße Hülle ist mit Strass besetzt. Sie ist 20 Jahre alt, ihr braunes Kopftuch ist mit einem blauen Blumenmuster verziert. Sie trägt es, seitdem sie zwölf ist, gegen den Willen ihrer Mutter, die könne es ihr aber nicht verbieten. Am Anfang war der Baumwollstoff nur ein Accessoire, erzählt sie, ihre Schwester trug auch eines, nun sei sie stolz darauf, anders zu sein. Sie schafft Distanz. In der Schule hätten die Lehrer sie „nicht so privilegiert behandelt wie die anderen Schüler“, so empfand sie es, und es tat weh. „Wenn Integration bedeutet, ein Kopftuch ablegen zu müssen, dann will ich mich nicht integrieren.“

Die junge Frau, in Berlin geboren, legt viel Trotz in diesen Satz. Später im Sprechzimmer wird sie das Kopftuch abnehmen, nicht weil sie müsste, sondern weil die Botschaft, die es vermittelt, hier unwichtig ist.

Abtreibung - eine gemeinsame Entscheidung

Wenn die Praxis ein Spiegel für die Zustände des Viertels ist, dann hat sich an der Situation der Musliminnen in den vergangenen Jahrzehnten wenig geändert. In den Gesprächen geht es noch immer um Beziehungsprobleme, Orgasmusstörungen, Familienkonflikte. Je nach Fall rät Sohela Rduch-Jandi schon mal zu einer Gesprächstherapie, leitet an Frauenberatungsstellen weiter, oft aber helfe ein Ratschlag: „Lernen Sie Deutsch, machen Sie eine Ausbildung, dann können Sie irgendwann für sich selbst sorgen, dann geht es Ihnen besser.“

Manchmal ist Schweigen die beste Hilfe. Wenn wieder eine junge Frau vor ihr sitzt, ihre Geschichte erzählt, die so viele andere schon erzählt haben: Sie habe diesen Mann kennengelernt, habe diesen Fehler gemacht, jetzt solle sie bald diesen anderen heiraten. Sie sei keine Jungfrau mehr.

„Die Frauen müssten eigentlich aufbegehren“, sagt Sohela Rduch-Jandi, gegen eine Tradition, die es Familien erlaubt, ihre Töchter zu verstoßen, die sie dazu bringt, die Mädchen zu bedrohen. Oft kämen die mit ihren Müttern in die Praxis, die seien eingeweiht, aber auch die könnten nichts machen. Zwei Frauen, die sich eisernen Regeln fügen. Also hilft die Ärztin. Skalpell, Klammer, Nadel, mehr braucht sie nicht, um das Jungfernhäutchen wieder anzunähen, den Saum des Restgewebes wund zu machen, einen Faden durchzuziehen, der bei der Hochzeitsnacht wieder aufreißt. Ein paar Minuten dauert der Eingriff, geschwiegen wird ein Leben lang.

Im Empfangsbereich wird ein Kinderwagen zur Tür hereingeschoben, dahinter eine türkische Mutter in einer hüftlangen schwarzen Jacke, gefolgt vom Vater, ein grauer Schatten umrandet seine Augen. Die Frau überreicht der Arzthelferin eine Überweisung. Die schüttelt den Kopf, sie müsse zuvor Pro Familia aufsuchen, um sich dort beraten zu lassen. „Ich kann nicht mehr warten“, sagt sie. Sie hätten eine dringende Frage, nur eine Frage an Frau Doktor, sagt der Ehemann, ob sie kurz mit ihr sprechen könnten.

Der Vater ist 27 Jahre alt, Koch von Beruf, seine Frau macht derzeit eine Ausbildung. Beide sind bereits Eltern von drei Kindern, eines liegt im Kinderwagen, nun erwarten sie das vierte. Er wolle seinen Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen, für ein viertes werde das Geld nicht reichen, sagt der Mann. „Es ist unsere gemeinsame Entscheidung.“

Sohela Rduch-Jandi führt die beiden ins Sprechzimmer. Sie wird gefragt, ob bereits ein Herzschlag zu sehen ist, dann darf im Islam nicht mehr abgetrieben werden, dann sei das Kind beseelt. In der Regel ist das ab der sechsten Woche der Fall.

Die Ärztin wird das Paar bald wiedersehen, wenn nach Paragraf 218 a die Schwangere sich drei Tage vor dem Abbruch von einem sozialmedizinischen Dienst hat beraten lassen. Der Vater wird wieder mit dabei sein. „Junge Männer sind heute sehr viel stärker involviert als früher“, sagt Sohela Rduch-Jandi. Sie wird mit den Eltern auch über Verhütung sprechen, mit ihr und vor allem mit ihm. Einige muslimische Männer würden nämlich ihren Frauen jede Art der Verhütung verbieten. Sie glauben, ihre Frauen könnten unfruchtbar werden. Sie glauben auch, dass die alte Methode, mit der ihre Eltern und deren Eltern vorgebeugt hätten, ausreichend sei.

Es bestehe immer noch ein großer Erklärungsbedarf. Sie müsse, sagt Sohela Rduch-Jandi, den Dialog suchen. So unangenehm er auch sein mag.

Erschienen auf der Dritten Seite.

Tuan Lam

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