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Grenzstreifen

© Mike Wolff

Raus aus der DDR: Freiheitsträume

Beide sind ’68 geboren, beide wollten raus aus der DDR: die Berliner Chris Gueffroy und Marco Wilms. Der eine war das letzte Opfer der Mauerschützen, der andere setzt seiner Generation nun ein Denkmal – mit einem Film, der auf der Berlinale läuft.

Er hatte am längsten Tag des Jahres Geburtstag. 21. Juni, Sommeranfang. Er fand, dieser Tag passte zu ihm. Vor genau 20 Jahren, in der Nacht vom 5. zum 6. Februar haben Chris Gueffroy und sein Freund Christian Gaudian versucht, von Berlin-Treptow über den Britzer Zweigkanal nach Berlin-Neukölln zu fliehen. Gaudian überlebte schwerverletzt. Gueffroy wurde von zehn Schüssen getroffen, der letzte war ein Herzdurchschuss. Er war 20 Jahre alt. Chris Gueffroy war der letzte Tote an der Mauer.

West-Berliner Zeitungen meldeten am 7. Februar 1989, dass in Berlin offenbar ein Fluchtversuch gescheitert sei. Zeugen hätten viele Schüsse gehört und eine Leuchtrakete gesehen. Das DDR-Außenministerium ließ mitteilen: "Eine rote Leuchtkugel sind keine zehn Schüsse." Chris Gueffroys Mutter hat die Schüsse auch gehört. Sie hörte zu Hause in der Südostallee, Treptow-Johannistal, manchmal Schüsse von der nahen Grenze. Noch wusste sie nichts. Aber ihr Sohn war am Morgen des 6. Februar nicht zum verabredeten Frühstück gekommen. Chris, das wusste sie doch, vergisst so etwas nicht.

Marco Wilms war schon lange nicht mehr in Treptow, genau 20 Jahre lang nicht. Hier stand einmal seine Berufsschule, direkt an der Mauer. Wenn sie die blinden Fenster öffneten, um zu lüften, sahen sie gegenüber die Neuköllner unter ihren Sonnenschirmen auf den Balkonen liegen. Wilms ist im gleichen Jahr wie Gueffroy geboren, zwei 68er. Beide sollten im Frühjahr 1989 zur Nationalen Volksarmee eingezogen werden. Auch Marco Wilms wusste in dem Augenblick, als er seinen Einberufungsbefehl in der Hand hielt: Da geh' ich nicht hin!

Frei - wie nie wieder in ihrem Leben

Marco Wilms spricht dieses Da-geh'-ich-nicht-hin! noch so viele Jahre später mit einer vor Entschlossenheit plötzlich ganz kalten Stimme. Wilms wohnt in dem Haus zwischen Alexanderplatz und Hackeschem Markt, das er mit Freunden Ende 1989 besetzte. So wie Marco Wilms müsste also jetzt auch Chris Gueffroy aussehen, gleiche 40 Jahre alt, mit einem Gesicht, das für Augenblicke noch ein Jungengesicht ist. Aber das währt nur kurz, dann sieht man wieder den Mann mittleren Alters.

Menschen mittleren Alters beginnen sich ihrer Jugend ganz neu zu erinnern. Marco Wilms hat einen ganzen Film über jene gemacht, die zur Wendezeit jung waren und - bei noch geschlossenen Grenzen und das kurze Jahr danach - ungemein frei. So frei wie nie wieder in ihrem Leben. "Ein Traum in Erdbeerfolie" hat am Samstag auf der Berlinale Premiere.

Wilms' NVA-Geschichte kommt nicht darin vor, die erzählt er jetzt. "Ich kann den Gueffroy verstehen", sagt er, "wir haben uns doch alle die gleiche Frage gestellt: Wozu ein Land verteidigen, an das wir nicht glauben? Und verteidigen: gegen wen?" Natürlich brachte die konformistische DDR die größten Individualisten hervor. Das ist die Dialektik der Diktaturen. Die innere Freiheit war nicht geschenkt, und jetzt sollten sie sich wieder erniedrigen und kommandieren lassen von Menschen, die ihnen vorkamen wie von einem anderen Stern?

Das große Weggehen hatte schon begonnen

Von solchen, die Chris Gueffroys Mutter endlich, zwei Tage nach dem Tod ihres Sohnes, in ihrer Geistersprache aufforderten, "zur Klärung eines Sachverhalts" im Ost-Berliner Polizeipräsidium in der Keibelstraße zu erscheinen. Karin Gueffroy wurde verhört. Nach der Vernehmung teilte man ihr mit: "Ihr Sohn hat ein Attentat auf eine militärische Einrichtung begangen." Und erst jetzt erfuhr sie, dass ihr Kind nicht mehr lebte. Der Totenschein war schon gefälscht. Der Staatssicherheit hatte die Todesursache "Herzdurchschuss" nicht gefallen, die Ärztin musste das ändern: "Herzversagen".

"Hatte der Gueffroy zu wenig Angst?", überlegt Wilms. Über die Mauer zu kommen, hätte er nicht versucht. Vielleicht auch wegen des Albtraums, den viele DDR-Bürger irgendwann einmal geträumt hatten: Man sieht sich auf die Mauer zulaufen, möchte anhalten, umkehren. Aber dieses Traum-Ich läuft weiter. Meist wachte man kurz vor dem ersten Schuss auf.

Aber Ende der 80er Jahre war das im Grunde schon ein Traum von gestern. Längst verließ man die DDR komfortabler. Man reiste aus. Man zelebrierte das. Es war in Chris Gueffroys Freundeskreis nicht anders als bei Marco Wilms: Es galt zunehmend als uncool, keinen Ausreiseantrag gestellt zu haben. Die ersten waren längst fort und schickten bunte Karten. Das große Weggehen hatte begonnen. Aber Marco Wilms und Chris Gueffroy hatten einen Einberufungstermin. Es musste schnell gehen.

Krumme Bäume gerade biegen

Marco Wilms begann, mit großer Beharrlichkeit die psychiatrischen Abteilungen der großen Ost-Berliner Krankenhäuser zu besuchen. "Ich glaube, ich war nicht ganz schlecht als suizidgefährdeter Depressiver mit homosexuellen Neigungen, aber die hatten so einen Blick wie: Wir sind doch nicht doof."

Bis zu dem Tag, als Marco das Restaurant "Schoppenstube" in der Schönhauser Allee besuchte. Eigentlich gehörte er hier nicht hin, denn die "Schoppenstube" war das Stammlokal der Ost-Berliner Schwulenszene. Aber Marco Wilms, der Junge aus Berlin-Lichtenberg, der eine ganze Kindheit hindurch von seinem grauen Neubau-Betonbalkon auf das Ministerium für Staatssicherheit schräg gegenüber geblickt hatte, war neuerdings hauptberuflich Mannequin beim Modeinstitut der DDR: entdeckt in einer Kellerdiskothek in Berlin-Friedrichshagen. Und plötzlich befand sich der widerborstige Junge in einer anderen Welt. Was eben noch als krumm galt, war nun gerade.

Keine Schuldirektorin würde jemals wieder an seinem Beispiel das Wesen der Erziehung erklären können. Es gebe "gerade Bäumchen", hatte sie den anderen Kindern gesagt, "und krumme Bäumchen wie unseren Marco". Erziehung bestehe nun darin, die krummen Bäumchen gerade zu biegen.

Die Mode- und die Schwulenszene der DDR waren einander nicht fremd, und in der "Schoppenstube" begegnete Marco Wilms dem Kinderpsychologen Dr. Schäfer vom Klinikum Herzberge, Berlin. Und Dr. Schäfer sprach: Wir schaffen das! - Kurz darauf wurde er konkreter: "Marco, jetzt kommt alles auf dich an. Ich weise dich in die geschlossene Abteilung ein. Du hast einen Selbstmordversuch hinter dir. Mach das gut! Zwei Wochen musst du durchhalten!"

"Die brechen Dir das Rückrat"

Chris Gueffroy war seit 1985 Lehrling im Flughafenhotel in Schönefeld. Näher konnte man dem, was man die "große weite Welt" nennt, in der DDR nicht kommen. Es war so eine Sehnsucht nach der Welt in ihm, sagt Karin Gueffroy. Vielleicht wollte er auch deshalb ursprünglich nicht Kellner, sondern Turnweltmeister werden. Als Weltmeister ist man nicht in der DDR, sondern in der Welt.

Nach zwei Jahren im Sportleistungszentrum "Feliks Dzierzynski" kam Chris Gueffroy auf die Dynamo-Sportschule, wo die Weltmeister gemacht wurden. Aber mit 14 Jahren verließ er Dynamo wieder. "Weil ich das so wollte", sagt Karin Gueffroy sehr bestimmt. Wenn sie ihrem Sohn, der nur an den Wochenenden nach Hause kam, zusah, wie er mit großem Ernst Leitartikel des "Neuen Deutschland" abschrieb, dachte sie manchmal: Oh mein Gott! - Chris Gueffroy hatte sich wohlgefühlt bei Dynamo, seine Mutter brauchte ein Vierteljahr, bis sie sein Einverständnis hatte. "Die brechen dir das Rückgrat", hat sie ihm erklärt, und: "Du wirst kein Weltmeister, mach dein Leben nicht kaputt!"

Die Welt verschloss sich, aber nun, am Flughafen, stand sie wieder offen. Nicht für ihn, aber für immer mehr Menschen und für manchen ganz plötzlich. Als der angehende Kellner im zweiten Lehrjahr war, flog die 23-jährige DDR-Bürgerin Sabine von Oettingen von Schönefeld aus mit Zwischenstopp in Brüssel geradewegs nach San Diego. Sabine von Oettingen - sie ist eine derjenigen, die in Wilms' Dokumentarfilm porträtiert werden - hatte auf den Rat eines Stasioffiziers gehört: "Heiraten Sie irgendjemanden, aber ziehen Sie ihren politischen Antrag zurück!" Irgendwann hatte die DDR aufgegeben. Sie wollte nur noch ihre Ruhe. Wer gehen wollte, sollte doch gehen. Aber möglichst leise. Das hieß nicht, dass die DDR nach Art der Schwachen nicht noch besonders aggressiv auftreten konnte.

Die junge schöne Modedesignerin fand die Heiratsidee gut. Bloß wen sollte sie heiraten? "Ein Westdeutscher kam nicht in Frage, da hätte ich meine DDR-Staatsbürgerschaft verloren." Aber sollte sie nun einen Holländer, einen Schweden oder einen Amerikaner heiraten? In der Prenzlauer-Berg-Szene von damals verkehrten alle Nationalitäten. Sabine von Oettingen entschied sich schließlich für Brian, der in West-Berlin Germanistik studierte, und für San Diego. Direkt vor Chris Gueffroys Flughafenhotel hob sie ab, im Januar 1987. Allerdings war Sabine von Oettingen schnell wieder aus Amerika zurück: "Was da alles verboten war! Ich durfte mein Kind nicht im Auto stillen, und in Venice Beach wollten sie mich vom Strand weg verhaften, weil meine lächerlich kleinen Brüste nicht bedeckt waren. Aber womit denn? Wer trug denn in der DDR ein Oberteil?"

Die schießen nicht mehr

Wer hätte denn im Ernst damit rechnen können, dass die Spießer nicht nur in der DDR wohnen? Dass die Sehnsucht nach der großen weiten Welt enttäuschbar ist, hat Chris Gueffroy nicht erlebt. Und vielleicht ist diese unbedingte Sehnsucht der Reichtum seiner hinter der Mauer geborenen Generation. Die meisten Flüchtlinge heute sind keine Romantiker.

Die schießen nicht mehr, hatte Gueffroy geglaubt. Denn es ist absurd zu schießen, wenn das Ausreisen zum Volkssport eines ganzen Landes wird. Weihnachten 1988 traf Chris Gueffroy einen Freund, der kam auf Urlaub, der diente an der Grenze. Die schießen nicht mehr, hat er bestätigt.

Als sein Freund Christian Gaudian und er Wurfanker bauen, um über die Sperrzäune zu kommen, hat Marco Wilms die zwei Wochen in der geschlossenen Abteilung schon hinter sich. Sein Vater, immerhin DDR-Geheimnisträger und dafür zuständig, dass die DDR-Sparkassen immer genügend Geld haben, hat ihn einmal dort besucht. Er war nicht besorgt, sagte nichts, setzte sich nur auf einen Stuhl und nickte tief und lange. Das war Anerkennung. So clever war also sein Sohn.

Kurz vor Weihnachten war Wilms in Anstaltskleidung mit den echten Verrückten im Zirkus gewesen. "Es war eins der größten Erlebnisse meines Lebens. Ich habe gemerkt, die Verrückten sind gar nicht verrückt, die kommen bloß mit der Realität nicht klar." Das Wehrkreiskommando hat ihn nach dem stationären Aufenthalt nicht mehr angeschaut: schwul und suizidgefährdet - aber nicht in der Armee!

Dafür muss Wilms nun jeden Montag morgens um sieben Uhr bei der Rehabilitionsgruppe antreten. Die DDR, das muss man ihr lassen, kümmerte sich um die verlorenen Seelen. Wilms probt immer schon am Sonntagabend.

Die Mörder wurden ausgezeichnet

Erhole dich, fahr an die Ostsee!, rät Chris Gueffroy seiner Mutter. Sie mag es, wenn ihr Sohn besorgt ist, aber sie könnte auch später fahren. Nein, du fährst jetzt nach Kühlungsborn, beharrt Chris Gueffroy. Er wohnt nicht mehr bei seiner Mutter, aber solange sie in der Stadt ist, würde er es nicht fertigbringen, das weiß er. Am 5. Februar 1989 kommt sie zurück. Entweder heute oder nie. Als sie am späten Nachmittag vor seiner kleinen Wohnung in Baumschulenweg steht, ist er nicht da.

Vor dem letzten Grenzzaun werden sie entdeckt. Chris Gueffroy macht für Gaudian eine Räuberleiter: "Du zuerst", soll er gesagt haben, "ich bin sportlicher, ich komm schon rüber". Da kommen von beiden Seiten zwei Grenzposten. Ingo Heinrich, Träger der Schützenschnur, stützt seine Kalaschnikow in einer Distanz von knapp 40 Metern auf einen Elektrokasten und zielt wie auf eine Schießscheibe. Gueffroys Hände geben nach, sein Freund fällt. Gueffroy hat, von mehreren Schüssen getroffen, längst aufgegeben, als die tödliche Kugel aus der Kalaschnikow kommt.

Chris Gueffroys Mörder, der Todesschütze Ingo Heinrich, und drei weitere Grenzsoldaten werden vom Chef des Grenzkommandos Mitte mit dem Leistungsabzeichen der Grenztruppen ausgezeichnet. Sie erhalten eine Prämie von 150 Mark. Ingo Heinrich wird nach 1990 zunächst zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. 1994 wird das Urteil revidiert: zwei Jahre mit Bewährung. Mit der wirklichen Schuld, der moralischen, nicht der juristisch erhebbaren, bleibt ohnehin jeder allein. Die misst sich nicht nach Jahren. Für diese Schuld gibt es keine Bewährung.

In derselben Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 flieht ein junger Arbeiter von Thüringen in die Bundesrepublik. Kein Schuss fällt, wie Chris Gueffroys Freund es gesagt hatte.

21. Juni, Sommeranfang. Noch ein Mensch - der Berliner Winfried Freudenberg - wird bei einem Fluchtversuch umgekommen sein, eine Flucht im selbstgebauten Gasballon, ein Absturz in Zehlendorf. Und Chris Gueffroy wäre 21 geworden. In diesem Jahr wird es ein großer ungarischer Sommer. Bald fährt auch Marco Wilms nach Budapest, geht über die offene Grenze, schon weil er die Montagstermine mit den wirklich Verzweifelten, den wirklich Verlorenen nicht mehr durchhält. Und er darf Dr. Schäfer nicht verraten. Marco Wilms fliegt von Nürnberg mit der PanAm zurück nach Berlin, nach West-Berlin. Es ist Nacht, die Mauer ist ein hellleuchtendes Band. Es sieht schön aus von oben.

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