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Berlin Music Week: Rock ’n’ Rollfeld

Es ist noch ein bisschen wie auf einer Baustelle. Man verläuft sich ständig und weiß nicht, was daraus werden soll, dass Berlin nun eine Music Week hat. Nachdem die Popkomm 2009 ausfiel, redet jetzt keiner mehr von Krise. Umbruch heißt das neue Zauberwort. Und das passt zu Berlin.

Und dann, abends um neun, wird die Berlin Music Week plötzlich sehr, sehr unwirklich. Zwei kräftige Männer mit tätowierten Oberarmen sitzen auf Schemeln und singen unplugged gefühlige Lieder. Über enttäuschte Hoffnungen, über Ratschläge ihrer Großväter, über die trostlosen Flure auf dem Arbeitsamt in Berlin-Marzahn. Haudegen heißt diese Band, nach drei Liedern zieht der linke Kraftprotz seine Lederweste aus und klingt gleich noch etwas sanfter. Im Publikum schwenken sie Arme im Takt. Das gab es noch nicht: eine Kreuzung aus Böhse Onkelz und Nicole. Glaubt man den Stimmen in direkter Umgebung, steht diese Band kurz vor dem Durchbruch, der Plattenriese Warner hat sie bereits unter Vertrag, bald kommt die Single. Man ahnt, dass Haudegen großen Erfolg haben wird. Man weiß nur nicht, ob das jetzt gut ist oder schlecht.

Hinter den Musikern auf der Bühne lässt sich ein Fan das Bandlogo auf den Unterarm tätowieren, ein Schwert mit zwei Flügeln. Die Stechaktion gehört bei Haudegen zu jeder Show dazu, das Tattoo ist gratis. Diane Wang, Bandpromoterin aus Köln und Tokio, gefällt das, und sie setzt gleich einen Twitterspruch ins Internet ab: jdp_tokyo: Haudegen on Popkomm... Amazing.

Sie steckt voller Überraschungen, diese Music Week, die früher nur Popkomm hieß. Zum Beispiel: dass sie überhaupt stattfindet. 2009 war die Popkomm ausgefallen, die Veranstaltung, auf die Berlin so besonders stolz war, weil eine ordentliche Pop-Hauptstadt doch bitte auch eine Musikmesse vorweisen können muss. Nun ist sie zurück, verlegt ins Hauptgebäude des ehemaligen Flughafens Tempelhof, doch diesmal als Teil von etwas weit Größerem, einer ganzen Woche gleich, in der die Schaffenskraft der hier lebenden Kreativen-Armee sich quasi selbst begegnet. In Diskussionsrunden, einem Rockfestival, der Clubnacht und zahllosen kleinen Konzerten.

yoursck: Erstaunlich, wie viele Fernsehleute hier rumrennen. Es geht doch um Musik!?

Es ist viel geschrieben worden über die Musikszene Berlins. Die legendäre. Die so sehr inspiriert, dass Künstler aus der ganzen Welt herkommen, um ein Teil von ihr zu sein, am liebsten für Jahre, zumindest für die Dauer einer Albumproduktion. Früher waren es David Bowie, Depeche Mode, U2, später dann Feist, Peaches, Rufus Wainwright, der Drummer von Bloc Party. Was macht sie so unwiderstehlich, diese Szene?

Eine schlüssige Antwort erhält man gleich am Eröffnungsabend, in einer kleinen Runde der Konferenz „All2gethernow“. Hundert Plastikstühle stehen in dem Raum, die Hälfte bleibt leer, und vorne auf dem schlecht beleuchteten Podium sitzt Nick Currie, 50. Der schottische Sänger lebt in Berlin. Man kennt ihn unter dem Künstlernamen Momus, wie der griechische Gott des Spotts, doch was er heute sagt, meint er todernst. Erstens: Es gibt nicht die Szene. Zumindest kennt er keine. Er kennt nur befreundete Künstler, und die kennen andere Künstler. Es gibt Inseln und Sphären und viele kleine Nischen, in denen man sich einrichten und wohlfühlen kann. Zweitens: Er darf hier Dinge tun, die er selbst interessant findet, die für andere aber eigentlich todlangweilig sein müssten. Neulich im Schokoladen hat Currie den ganzen Abend nur auf einen Knopf gedrückt. Maschine an. Maschine aus.

Die Verinselung setzt sich auch im Flughafengebäude fort, mit vielen kleinen Ecken zum Verlaufen, und Jussi Mäntysaari, Musikjournalist aus Finnland, schickt eine Nachricht per Twitter an seine Freunde. jussimantysaari: I love the location, even though architecture of airport is not the best for this use.

Donnerstagvormittag bleibt Conrad Fritzsch keine Zeit für sein labbriges Schinkensandwich. Er hat Termine, ein Gespräch nach dem anderen, deshalb ist er hier. Dunkles Hemd, dunkle Brille, dunkle Wuschelhaare. Fritzsch ist Geschäftsführer von Tape.tv, einer Internetplattform, die Nutzern genau die Musikvideos zeigen will, die dem persönlichen Geschmack entsprechen. Jeder soll kriegen, was er haben will. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Currie macht.

In der alten Abfertigungshalle des Flughafens haben Fritzschs Mitarbeiter für drei Tage einen Stand bezogen, schräg gegenüber vom Gepäckband, und Fritzsch selbst läuft umher und kontaktiert, tauscht aus, vernetzt sich. Mit Künstlern, Labels, Verlagen. Dass er mit Radio Fritz kooperiert, war schon klar. Weil Fritzsch den Musikchef Ernst-Christian gut kennt und der wiederum Eric von Radio Sputnik, haben sie Dienstagabend zusammengestanden, bei der Verleihung eines Musikpreises, und jetzt wird Tape.tv auch mit Sputnik zusammenarbeiten. So geht das.

Der Sinneswandel war grundlegend und brauchte Zeit, sagt Fritzsch. Die Erkenntnis, dass Kooperation hilft – keine leichte für eine Branche, deren Akteure so unmittelbar und unbedingt dem Wettbewerb der Ideen ausgesetzt sind. Man könnte vermuten, dass die Konkurrenz in schwierigen Zeiten zunimmt. Dass wegbrechende Tonträgerverkäufe Unternehmer gegeneinander aufbringen, doch das Gegenteil scheint der Fall. Das Internet ist allgegenwärtig. Denn genauso, wie das illegale Herunterladen von Songs die Industrie geschädigt, manche sagen: zertrümmert hat, soll das Netz auch die Rettung bringen, soll Musik durch Verbreitung im Internet wieder einträglich werden. Wie genau, wird noch diskutiert, in zahllosen Runden. Neue Geschäftsmodelle werden erörtert, angezweifelt, verteidigt, Zukunftsvisionen gesponnen, Deutungshoheiten beansprucht.

SimSullen: ich dachte gerade, ich kann dem angekündigten thema nicht folgen... bin aber nur im falschen panel gelandet ;)

Die meisten, die hier etwas zu sagen haben, sind Männer. Klar, man trifft auch Frauen auf der Popkomm, nur verkaufen die auffällig oft belegte Brötchen, verteilen Prospekte oder halten Schilder hoch mit der Aufschrift „Presserundgang“.

Die Männer sagen schon lange nicht mehr Krise, sondern Umbruch. Manche sprühen vor Optimismus, an Ideen mangelt es jedenfalls nicht. Im Gewusel auf den Fluren gerät man leicht an Dampfplauderer und Aufschneider, auch an solche, die irrtümlich glauben, Probleme seien gelöst, weil Bands jetzt eben mehr Umsätze durch Konzerte erzielen und also keine Tonträger mehr brauchen.

Es kann dauern, bis man einen trifft, der kühlen Kopf bewahrt. Thomas Morr ist so einer. Der Chef des Berliner Indielabels Morr Music, seit zwölf Jahren dabei, sitzt im Strickpulli auf der Fensterbank ganz am südlichen Ende des Traktes, hier kann man sich unterhalten. Doch, sagt er, der Existenzdruck ist noch da, gerade bei den kleinen Labels sind sie alle überlastet, zeitlich wie finanziell, bis zum Anschlag. Und in dieser Situation soll man kreativ bleiben, sich ständig neu erfinden, wie soll das bitte gehen. Thomas Morr sagt: Wir Indielabels, aber hätte er nicht auch sagen können: Wir hier in Berlin?

Durch die Fensterscheibe blickt er aufs Rollfeld, es regnet, und unter dem Vordach schrauben Techniker noch an der Bühne für das Festival, auch die zwei wichtigsten Bands von Morrs Label, Lali Puna und Seabear, werden hier spielen. Was für eine Location, staunt Morr, und was für eine zwingende Idee, die Kräfte der Berliner Szene in einer gemeinsamen Music Week zu bündeln. Auch wenn das Konstrukt noch einer Baustelle gleicht, ein Prozess, der Jahre dauern wird. Im Ausland waren sie skeptisch. Wenn eine Messe einmal ausfällt, sind die Totengräber nie weit.

Thomas Morr ist keiner, der sich nach vorne drängt, aber wenn man ihn fragt, kann er sieben Minuten am Stück antworten, ohne einen einzigen langweiligen Satz zu sagen. Er hat die Anfänge selbst miterlebt, ist Gründungsmitglied der „Berlin Music Commission“, eines Zusammenschlusses von Labels, Konzertveranstaltern, Clubs. Im Nachhinein scheint es kurios, dass sie erst 2007 gestartet sind, gut acht Jahre nach Ausbruch der Krise. Aber wer hätte vorher auch nur vage darüber beraten wollen, wie man sich gemeinsam um politische Förderung bemüht. Oder ob das überhaupt cool wäre. „Es widersprach dem Do-it-yourself-Charakter.“

Inzwischen sind die Strukturen gewachsen, und manchmal bedarf es nur noch eines kleinen Zufalls, um Entscheidungen von großer Tragweite anzustoßen. Das vielleicht anschaulichste Beispiel ist die Geschichte, wie die Popkomm überhaupt nach Tempelhof kam: Im letzten November hatte die Senatsverwaltung in eine Lounge in den Hackeschen Höfen geladen. 30 Männer aus der Musikbranche hockten in einem Raum, es ging um die Zukunft des Standorts, wieder mal, und zufällig saßen die Popkomm-Macher am selben Ecktisch wie die des Berlin-Festivals. Ihr wart doch dieses Jahr in Tempelhof, haben die Popkomm-Leute gesagt, erzählt mal! Zwei Tage später entstand der Plan, sich zusammenzutun.

Einer der größten Vernetzer der Stadt heißt Tim Renner. Wenn er versucht, alle Gremien und Vereine und Enquete-Kommissionen aufzuzählen, in denen er Mitglied ist, wird er mittendrin abbrechen, weil er sowieso die Hälfte vergisst. Ihm gehört Motor, die Plattenfirma und der Radiosender, er hat die „All2gethernow“ ins Leben gerufen, und heute ist er leicht verschwitzt, weil er dachte, seine nächste Gesprächsrunde sei am östlichen Ende des Flughafengebäudes anberaumt, das entgegengesetzte wäre richtig gewesen. Tim Renner ist ein guter Beobachter, und als zugezogenem Hamburger fällt ihm auf: Die Berliner sind unheimlich versiert darin, sich in ihre Ideen und Projekte reinzusteigern – und dabei den Moment zu verpassen, in dem sie selbst davon wirtschaftlich profitieren könnten.

recordJet: Popkomm-Tipps: kostenlose Getränke bei Universal (alkoholfrei).

Bei Universal war Renner mal Chef. Es ist das größte und wichtigste Label Berlins, kein anderes hat mehr Marktanteile in Deutschland oder weltweit, aber auch hier zeigt sich die neue Zeit. Auf der letzten Popkomm in den Messehallen unterm Funkturm hatten sie noch einen eigenen, computergenerierten Wasserfall aufgebaut, und die Tropfen fielen so exakt dosiert von der Decke, dass sie nacheinander die Namen der wichtigsten Bands unter Vertrag formten. Diesmal hat Universal bloß eine Nische im Gang angemietet, und auf dem Tisch liegen gelblackierte Bleistifte zum Mitnehmen. Diese Music Week beeindruckt nicht mit Design und Pomp, sondern der kaum fassbaren Fülle an Plänen und Möglichkeiten. Und James, Anwalt aus London, Spezialgebiet Musikrechte, schickt eine Nachricht per Twitter. JdS: Interesting day and evening at Popkomm in Berlin. Great city!

„Berlin ist wie nachsichtige Eltern“, hat Nick Currie seinem erstaunten Publikum Anfang der Woche gesagt. „Eltern, die ihrem Kind erlauben, sich in die Ecke zu setzen und etwas Schräges zu spielen.“ Stimmt, stimmt, fand sein Nebenmann, ein DJ aus New York. Aber das Beste sei: Berlin gewährt einem den Luxus, Distanz zu wahren. Sich nicht integrieren zu müssen. „Mein Deutsch ist immer noch fürchterlich“, sagt Currie auf Englisch. „Diese Stadt bedrängt dich nicht. Diese Stadt sagt: Komm her und sei einfach.“

Currie wird Berlin trotzdem verlassen. Seine japanische Freundin bekam ihr Visum nicht verlängert. Jetzt zieht er nach Osaka, das sei quasi das Berlin Japans, sagt er. Billiger als Tokio und mit vielen kleinen Nischen.

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