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Julia Timoschenko, Oppositionsführerin in der Ukraine.

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Update

Ukraine: Wie stark belastet der Fall Timoschenko das Verhältnis zur EU?

Aus Protest gegen die Behandlung der ukrainischen Oppositionsführerin Julia Timoschenko hat Bundespräsident Joachim Gauck einen geplanten Besuch in der Ukraine abgesagt. Bundesregierung und Sportfunktionäre ringen um die richtige Haltung gegenüber dem Land vor der Fußball-EM.

Der Konflikt um die berühmteste ukrainische Gefangene hat sich dramatisch zugespitzt: Am Freitag trat die frühere Regierungschefin Julia Timoschenko, die in einer Strafkolonie im ostukrainischen Charkiw inhaftiert ist, in den Hungerstreik. Sie wirft den Behörden vor, sie unter Anwendung von Gewalt in ein Krankenhaus verlegt zu haben. Im Oktober 2011 war Timoschenko wegen Amtsmissbrauchs bei einem Gasgeschäft mit Russland zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Die Europäische Union hatte das Vorgehen gegen Timoschenko als politisch motiviert kritisiert. Bundespräsident Joachim Gauck wird an einem Treffen der zentraleuropäischen Präsidenten auf der Halbinselnsel Krim nicht teilnehmen. Die ukrainische Botschaft sei informiert worden, dass Gauck der Einladung nicht folgen werde. Der Fall belastet auch die Fußball-Europameisterschaft, die in der Ukraine und in Polen ausgetragen wird.

Was weiß man über Timoschenkos Gesundheitszustand?

Die frühere Regierungschefin leidet nach Angaben ihrer Tochter an einem Bandscheibenvorfall, hat sehr starke Schmerzen und kann kaum gehen. Zwei deutsche Spezialisten von der Charité, der Vorstandschef und Neurologe Karl Max Einhäupl und der Unfallchirurg Norbert Haas, hatten Timoschenko in Charkiw untersucht und konstatiert, dass die Krankheit bereits ein chronisches Stadium erreicht habe und die Patientin dringend behandelt werden müsse.

Nach Darstellung Timoschenkos wurde sie am Freitag gegen ihren Willen ins Krankenhaus gebracht. Gegen 21 Uhr seien drei Männer in ihre Zelle gekommen, hätten ein Bettlaken über sie geworfen und sie unter Anwendung „brutaler Gewalt“ vom Bett gezerrt, berichtete Timoschenko in einer schriftlichen Erklärung. Sie habe sich gewehrt, so gut sie konnte, und dabei „einen kräftigen Schlag in den Magen“ bekommen. Ihre Arme und Beine seien verdreht worden, bevor sie im Bettlaken auf die Straße gezerrt worden sei. „Ich dachte, das wären die letzten Minuten meines Lebens“, erklärte sie. Wegen „furchtbarer Schmerzen“ sei sie bewusstlos geworden und erst im Krankenhaus wieder aufgewacht.

Mit dem Hungerstreik will sie die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die Vorgänge in der Ukraine lenken. Ärzte warnen, dass in ihrem Fall ein Hungerstreik schneller zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen könnte: „Durch die bereits seit Monaten vorhandenen erheblichen psychischen und körperlich en Belastungen sind bereits körperliche Schäden aufgetreten, die dazu führen, dass kritische Situationen früher eintreten“, sagte Einhäupl dem Tagesspiegel.

Wie will ihr Deutschland helfen?

Die Bundesregierung setzt sich massiv dafür ein, Timoschenko in der Charité zu behandeln, doch die ukrainischen Behörden entschieden sich für eine Verlegung ins Krankenhaus in Charkiw. „Das Angebot der Bundesregierung für eine medizinische Behandlung von Julia Timoschenko in Deutschland steht“, betonte Bundesaußenminister Guido Westerwelle am Mittwoch. Er habe dieses Angebot seinem ukrainischen Amtskollegen noch einmal persönlich unterbreitet.

Inzwischen zeichnet sich eine andere mögliche Lösung ab: Die ukrainische Regierung bat Deutschland am Mittwoch offiziell darum, Timoschenko von deutschen Ärzten behandeln zu lassen. Charité-Chef Einhäupl bestätigte, dass es entsprechende Überlegungen gibt: „Wir prüfen gerade, ob es aussichtsreich ist, dass ein Ärzteteam der Charité Frau Timoschenko in Charkiw behandelt.“ Ob tatsächlich mehrere Charité-Ärzte nach Charkiw gehen würden oder nur ein Arzt, der dann mit ukrainischen Therapeuten zusammenarbeitet, ist noch unklar. Als ausgeschlossen gilt, dass Einhäupl und Haas das selbst übernehmen könnten. Sicher ist: Die Behandlung wird sich über längere Zeit hinziehen. „Ein mittlerweile chronisch gewordener Prozess wird voraussichtlich mehrere Wochen bis Monate behandelt werden müssen“, sagte Einhäupl.

Eine Behandlung Timoschenkos in Charkiw durch deutsche Ärzte würde allerdings bedeuten, dass sie danach ins Gefängnis zurückkehrt. Eine Verlegung nach Deutschland käme einer Freilassung gleich.

Was bedeutet der Fall Timoschenko für die Beziehungen zur Europäischen Union?

Die EU hat den Prozess gegen Timoschenko zum Testfall für die weiteren Beziehungen zur Ukraine erklärt. Ein bereits fertig verhandeltes Assoziierungsabkommen, das die Annäherung der Ukraine an die EU voranbringen soll, liegt deshalb vorerst auf Eis. „Für eine weitere Annäherung der Ukraine an die EU durch die Unterzeichnung und Ratifizierung des Assoziierungsabkommens erwarten wir zunächst einmal glaubwürdige und eindeutige Schritte zu mehr Rechtsstaatlichkeit“, sagte Westerwelle am Mittwoch.

Doch ungeachtet aller Mahnungen aus der EU hat in der vergangenen Woche ein neuer Prozess gegen Timoschenko wegen Steuerhinterziehung begonnen. Außerdem ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft gegen Timoschenko wegen angeblicher Finanzierung eines Auftragsmordes an einem Unternehmer im Jahr 1996.

Wie stark belastet der Fall Timoschenko die bevorstehende Fußball-EM?

Am 9. Juni spielt die deutsche Nationalmannschaft ihr zweites Gruppenspiel gegen die Niederlande – in Charkiw, nur wenige Kilometer von der Strafkolonie entfernt, in dem Julia Timoschenko derzeit sitzt. Rein räumlich betrachtet kommt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) also gar nicht an dem Fall vorbei. Das heißt jedoch nicht, dass er das Bild dieser EM prägen wird. Als die Olympischen Spiele 2008 in Peking stattfanden, rückten nach Beginn der Wettbewerbe die Menschenrechtsverletzungen wieder in den Hintergrund.

Derzeit steht die Bundesregierung aber vor der schwierigen Entscheidung, ob sie zu den Spielen der Mannschaft reist – denn alle Vorrundenspiele der Deutschen finden in der Ukraine statt. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Mittwoch, die Bundeskanzlerin habe noch keine Reisepläne. Er deutete jedoch an, dass die politischen Entwicklungen darin eine Rolle spielten. Auch Bundespräsident Joachim Gauck hat noch nicht abschließend entschieden, ob und in welcher Form er die EM besucht. An einem Treffen der zentraleuropäischen Präsidenten am 10. Mai auf der Krim nimmt der Präsident nicht teil. Einen Boykott der EM schloss die Bundesregierung am Mittwoch aus: Sowohl Westerwelle als auch Innenminister Hans-Peter Friedrich sprachen sich gegen solche Forderungen aus. Im Gegenteil sagte Westerwelle, die EM biete wegen des hohen öffentlichen Interesses „eine gute Gelegenheit, genau hinzuschauen, wie es um die Lage der Menschenrechte und um die Rechtstaatlichkeit in der Ukraine bestellt ist“.

Wie verhalten sich die Fußball-Funktionäre?

In brüderlicher Eintracht standen Michel Platini, Präsident des europäischen Fußball-Verbands Uefa, und Viktor Janukowitsch Anfang April nebeneinander. Mit großen Scheren durchschnitten sie ein blaues Band zur symbolischen Eröffnung des neuen Flughafens von Lemberg. Solche inszenierten Bilder bieten dem ukrainischen Präsidenten genau die Bühne, die er sich von der EM verspricht. Und die Uefa kann dagegen wenig tun. Platini zieht sich auf bewährte Phrasen zurück: „Die Uefa ist keine politische Institution“, sagt der Franzose. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) verweist darauf, dass er als Teilnehmerverband wenig ausrichten kann. „Dort werden Menschenrechte verletzt, das darf nicht toleriert werden“, sagt DFB-Präsident Wolfgang Niersbach zwar, spielt jedoch den Ball zurück ins Feld der Politik: Man könne nicht erwarten, dass sein Verband Problem löse, die die Politik vergeblich zu lösen versucht. Wie vor jedem Turnier wird die Mannschaft im Vorfeld mit Informationen über Land und Leute versorgt, das beinhaltet auch Informationen zur politischen Lage. Wie sich die Spieler äußerten, sei letztlich ihre Sache, hieß es am Mittwoch aus DFB-Kreisen, gemeinsame Protestaktionen sieht man derzeit nicht.

Seinen ganz persönlichen Protest plant der Geschäftsführer des Deutschen Meisters Borussia Dortmund. Er fahre nicht, wenn Timoschenko nicht behandelt werde, sagt Hans Joachim Watzke. Er könne sich ein Fußballfest mit guter Stimmung nicht vorstellen, wenn „die Frau Timoschenko da liegt und ihre Schmerzen hat“.

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