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© picture alliance

Kultur: Wozu ist ein Bär gut?

Der deutsche Autorenfilm war im Ausland lange beliebter als hier. Die jungen Wilden mussten erst Papas Kino verdrängen. Das gab Krach. Und das Publikum fragte: Was geht mich das an? Ein persönlicher Rückblick auf 40 Berlinale-Jahre

Was die Berlinale von allen anderen großen Festivals unterscheidet: Sie findet statt in einer Großstadt. Es gibt keinen Strand hier, keine Glamour-Hotels, keine Spielcasinos, keine diamantbehängten Witwen, keine Spesenritter und Steuer-Abschreiber. Dafür Verkehr, Kneipen, arme Leute, reiche Leute, Publikum und Politik.

Geschichte auch. Sie überschattet alles in Berlin, deshalb hat es der reine Unterhaltungsfilm hier ebenso schwer wie der reine Kunstfilm. Alle Filme werden abgeklopft auf ihren Gehalt an Wirklichkeit, Dringlichkeit, Ehrlichkeit. Die eigentliche Jury, unsichtbar und doch omnipräsent, ist das Berliner Publikum, sein Maßstab die Geschichte, die deutsche, die europäische und die der Welt.

Schon vor dem Bau der Mauer hatte es mich hierher verschlagen. Beim Betrachten alter Fotos vom Sommer 1961 kann ich nicht glauben, dass ich so etwas einmal getragen habe: Anzug mit schmaler, schwarzer Strickkrawatte! Und diese steifen Abendgarderoben vor dem Zoo-Palast, die gestärkten Petticoats, dazu die weißen Pumps, schicke Hüte, biedere Käfer und schmucke Borgwards – Staffage für einen historischen Film. Das Publikum sieht irgendwie wirklicher aus, diese nach Bildern und Geschichten hungernden Eingeschlossenen.

Das war meine erste Berlinale. Im Ausland ist man damals dem jungen deutschen Film wohler gesonnen, in Berlin herrschen noch die Väter, Papas Kino. Dann kommt fünf Jahre nach dem Mauerbau Jean-Luc Godard und schimpft, dass man auf 3000 Meter Höhe im Luftkorridor einfliegen müsse, also mitten durch die Turbulenzen, die meteorologischen wie die politischen. In Tempelhof grüßen links und rechts der Einflugschneise die Trümmer. Geschichte allgegenwärtig. Aber die „Kinder von Marx und Coca-Cola“, wie Godards Wettbewerbsbeitrag im Untertitel heißt, mischen sie so mächtig auf, dass die immergleichen diplomatischen Zwischenfälle und Eiertänze des Kalten Kriegs und der deutsch-deutschen Querelen kaum mehr zählen. Godards Hauptdarsteller Jean-Pierre Léaud erhält einen Silbernen Bären, während Roman Polanski mit mir und einigen anderen auf dem Podium sitzt und ruft: „You never see the money!“. Ein Aufschrei, mit dem er sich mir ein für allemal eingeprägt hat.

Wir schreiben 1966, und es geht schon damals um neue Werte und Richtungen im Kino. Polanski erdet das Gespräch, indem er schnell auf den eigentlichen Wert kommt: das Geld. Er beschreibt die selbstbefriedigende Begeisterung der Produzenten am Anfang eines Projekts: „We are going to make a hell of a picture!“ Oder auf Filmdeutsch: „Ich hab’ ein gutes Gefühl!“ Am ersten Wochenende nach dem Filmstart kommt die Euphorie wieder, sagt er, alle übertreffen sich mit Hochrechnungen der Einspielergebnisse. Wir werden alle reich! Nach einem Jahr dann die traurige Erkenntnis: „You never see the money!“

Polanskis Satz fiel mir wieder ein, als er vergangenen Dezember Haus und Wohnung verpfänden musste, um die Kaution für die Schweizer Justiz zu hinterlegen. Sein neuer Film „Ghostwriter“ läuft am Freitag im Wettbewerb der Berlinale. Ohne ihn. Es war keine eitle Klage, damals, auf dem Podium.

Der Autorenfilm ist trotzdem für kurze Zeit der Sieger in den sechziger Jahren, bis Jean-Luc Godard und Louis Malle 1968 in Cannes den Vorhang fallen lassen. Pariser Mai, Abbruch des Festivals, 1970 dann auch in Berlin: Das Jahrzehnt der Ideologen bricht an, die geistige Gleichschaltung reicht bis in die Fernsehredaktionen. Gerade in Berlin können Filme nun gar nicht anders als politisch sein und politisch wahrgenommen werden. Ein Höhepunkt: Fassbinders Auftritt 1978 mit unserem Gemeinschaftswerk „Deutschland im Herbst“. Es herrschte nach dem traurigen deutschen Herbst noch ein angeheiztes Klima, vor allem in Berlin, als Kluge, Sinkel, Mitglieder der Roten Rübe und ich fast unbemerkt die Pressekonferenz betraten. Alle Augen und alle Kameras waren auf RWF, das Enfant terrible, in seiner Lederjacke gerichtet. Er war sozusagen der Terrorist. So jedenfalls empfand ihn das Publikum. Denn auf der großen Leinwand im Zoo-Palast war er splitterfasernackt zu sehen, sich am Gemächt kratzend und über die Polizei maulend. Sehr viel gesitteter sein Auftritt mit „Die Sehnsucht der Veronika Voss“, 1982. Der Goldene Bär dafür war ihm sehr wichtig.

Wir sprachen vom Herbst, aber der Berlinale-Termin war da schon vom milden Juni auf den grimmigen Februar verlegt. Eine unbequeme Entscheidung – aber der Stadt angemessen. Unvorstellbar heute ein Festival im Sommer mit Strandkörben an der Spree: Da kann ich ja gleich an den Lido, wohin es den diesjährigen Jurypräsidenten Werner Herzog, auch Margarethe von Trotta, Alexander Kluge und Edgar Reitz immer wieder gezogen hat. Venedig war oft deutscher als Berlin, schon zu Zeiten von Leni Riefenstahl. Kulturell hat die Achse zum Land der Zitronenbäume gehalten. Aber Herbert Achternbuschs „Gespenst“ wäre auf einem Festival wie Venedig fehl am Platze gewesen – schon weil es da keinen CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann gab, den man hätte gegen sich aufbringen können. Und der hat die Bundesfilmpreisgelder für Achternbuschs Film dann prompt nicht auszahlen wollen. Auch ein anderer Anarchist der ersten Stunde, der fast schon vergessene Pionier des Jungen Deutschen Films, Vlado Kristl, hat 1983 die Berlinale noch mal zu einem Auftritt genutzt und uns Altgewordenen ans Schienbein getreten. „DIE VERRÄTER DES DEUTSCHEN FILMS SCHLAFEN NICHT!“ So hieß das Pamphlet mit dem er uns vorwarf, die Ideale der Jugend verraten und uns im Komfort des Filmfördersystems eingerichtet zu haben. Kein Widerspruch – ehrlicherweise.

1990 steht die Mauer noch, hat aber ein Loch, durch das ein Bus zum Kino International fährt, zur Ost-Berliner Vorführung meiner „Geschichte der Dienerin“, eines trostlosen Ausblicks auf den totalitären Staat. Margaret Atwood, die Autorin der Romanvorlage, sitzt neben mir. Am Checkpoint Charlie erzählt sie, dass sie als Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes mehrfach von hier in den Osten gegangen sei und dass der Gedanke zu der Mauer, die ihre düstere Zukunftsvision einschließt, eben hier entstanden sei. Und weiter sagt sie, das Regime der starren Patriarchen sei von der DDR mindestens ebenso inspiriert wie von den fundamentalistischen Dekanen der amerikanischen Unis. In diesem Punkte stimmen Harold Pinter, der Drehbuchautor, und Lady Antonia ihr zu. Ansonsten hat Pinter nur sarkastische Seitenhiebe übrig für mich und alle, die sentimental auf das große Ereignis reagieren. Als ob im Westen Freiheit herrsche ... Nur Igor Luther, dem 1968 aus Prag geflohenen Kameramann, ist mulmig zumute, denn die Grenzer stehen ja noch auf ihrem Posten. Er ist sichtlich erleichtert, als er seinen Pass ungeöffnet zurück erhält.

Wir alle suchen während dieser ersten Jahre der Wende nach dem richtigen Umgang mit den neuen Verhältnissen. Die demonstrativ kollegiale Verbrüder- und Verschwesterung des Westens mit der Defa ist nicht ohne Peinlichkeit. Eigentlich kennt man sich ja gar nicht. Wer sich hier wie gefühlt hat? Vielleicht wird Wolfgang Kohlhaase es verraten, wenn er am nächsten Mittwoch im Kino International den Ehrenbären entgegennimmt.

Wie groß die Missverständnisse auch zehn Jahre nach der Mauer noch sein würden, ahnen Kohlhaase und ich nicht, als wir auf der Berlinale 2000 „Die Stille nach dem Schuss“ zeigen. Die im Osten sagen: „So waren die Terroristen nicht.“ Die im Westen sagen: „So war die DDR nicht.“ Eine „sympathische“ Terroristin und ein „sympathischer“ Stasimann, das geht dann doch zu weit. Andrzej Wajda will unserem Film einen Bären geben, aber die Deutschen in der Jury protestieren vereint. Also bekommen Bibiana Beglau und Nadja Uhl einen geteilten Silbernen, was uns alle doppelt freut.

Hat es auch genützt? Wozu ist so ein Bär gut, frage ich mich, und fordere auf offener Bühne gleich die Freilassung der noch einsitzenden ... – keine gute Idee, wie mich die Stille nach dem Satz, im Saal, schnell belehrt. Wozu also ist so ein Bär gut? Bringt er dem Film Zuschauer? Wenn die Leute den Film sowieso sehen wollen, sind es mit Bär vielleicht ein paar mehr. Verschafft er dem Regisseur Angebote? Eher nicht. Ist er gut für die Karriere der Schauspieler? Selten. In unserem Fall hätte Nadja Uhl bestimmt auch so ihren Weg in den „Sommer vorm Balkon“ gefunden, und Bibiana Beglaus Theaterkarriere war so oder so vorgezeichnet. Fürs Fernsehen ist sie zu kantig, für den deutschen Film vielleicht auch.

Jury-Arbeit ist Diplomatie. Das denke ich jedenfalls, als ich 1991 Jury-Präsident werde und mit meiner gesamte Jury – Laurie Anderson, Renate Krößner und die französische Filmemacherin Chantal Akermann sind dabei – nach einer Woche feststelle: kein einziger richtig preiswürdiger Film. In der allgemeinen Ratlosigkeit fällt mir Marco Ferreri ein. Gerade habe ich den eigenwilligen Regisseur von „El cochecito“ und „Das große Fressen“ ziemlich einsam und verlassen in der Hotellobby sitzen sehen. Von niemandem beachtet, träumte er verdrossen vor sich hin, dachte wohl an seine besseren Zeiten. Für seinen Wettbewerbsfilm „Das Haus des Lächelns“, eine Altersheim-Komödie mit Ingrid Thulin, kann er kaum mit einem Preis rechnen, das weiß er.

Wir gaben ihm kurzentschlossen den Goldenen Bären. Natürlich galt die Geste mehr seinem Gesamtwerk. Wie alle guten Taten bleibt auch diese nicht unbestraft: Den Jurypräsidenten treffen Hohn und Spott, als er die Entscheidung verkündet. Vor allem bei der Pressekonferenz verging mir der übliche Trotz. Immerhin war Jacques Doillon sich mit dem „Kleinen Gangster“ treu geblieben, und dann hatte es noch „Das Schweigen der Lämmer“ gegeben. Aus heutiger Sicht nicht leicht zu verstehen, dass die Mehrheit von uns noch dem traditionellen Begriff des „Festivalfilms“ anhingen. Bergman, Antonioni, Buñuel weilten noch unter uns. Mit ihren Namen verbanden wir eine Vorstellung von Film als der „Siebten Kunst“, zu der keineswegs ein Thriller und Bestseller passen wollte. Wir, und ich allen voraus, waren zu geschockt von dem Film, kamen uns vor wie Voyeure bei den sadistischen Szenen, die nur an die niedrigsten unserer Triebe zu appellieren schienen. Nur die amerikanische Künstlerin Laurie Anderson konnte mit solchen europäisch-ästhetischen Kriterien nichts anfangen. Sie hatte recht. Gerade ich hätte frei nach Fassbinder das sogenannte Triviale über das „besonders wertvoll“ des alten Kunstfilms stellen sollen. Das Prädikat-Genre hat sich mit dem alten Jahrtausend verbraucht.

2009 läuft im International die wiederhergestellte Originalfassung von „Lawrence of Arabia“, in Anwesenheit des Komponisten Maurice Jarre, der für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird. Er sitzt im Rollstuhl, aber als der Applaus aufbraust, steht er plötzlich auf der Bühne und küsst seinen Bären. Die Fans stellen ihm Fragen, und er deutet tatsächlich auf mich als einen, der „die Antworten besser kennt“ als er. Ein schmeichelhafter Berlinale-Moment: Wiedergutmachung für die Jury-Schmach acht Jahre zuvor. Aber mit dem verführerischen Charme eines Maurice Jarre kann ich nun wirklich nicht dienen. Eigentlich wollte er dieses Jahr wiederkommen, um mit mir die neue, um eine halbe Stunde ergänzte Fassung der „Blechtrommel“ vorzustellen. Aber er ist gestorben, in Malibu, kurz nach der Rückkehr von seiner Berliner Ehrung.

Seit dem Fall der Mauer ist die Berlinale dann doch „unser“ Festival geworden, ein Ort in der Mitte, der von Ost und West angenommen wird. Was weder im Olympiastadion bei der Hertha noch in der Akademie der Künste so richtig gelingt, ein übergreifendes Wir-Gefühl herzustellen, am Potsdamer Platz ist es da. Vielleicht ja auch, weil wir uns hier dem Ausland gegenüber behaupten müssen. Und weil die Stadt andere Sorgen hat, weshalb ihr Publikum bei jedem Film die Messlatte anlegt: Was geht der mich an?

Ulrich Gregor, der spätere langjährige Forum-Chef der Berlinale, und der Filmhistoriker Enno Patalas haben diese Frage bereits vor fast 50 Jahren gestellt. Die Berlinale solle sich von Cannes und Venedig emanzipieren, schrieben sie in der legendären Zeitschrift „Filmkritik“, deren Kampfgeist uns heute fehlt. „Als Publikumsfestival statt als Konsumentenspeisung“ solle sich die Berlinale definieren, stand da, „als Diskussions- mehr denn als Repräsentationsfestival. Als Ort der Auseinandersetzung, nicht der gegenseitigen Komplimente. Als Ausstellung des neuen Films statt als Parade des Bewährten.“

Das Bewährte, das gegenseitige Schulterklopfen und der Glamour liegen immer noch auf der Lauer. Doch 2010 hat die Berlinale mit Werner Herzog einen mächtigen Beschützer. Er wird das Schwert des Erzengels unerbittlich gegen jegliches Mittelmaß führen.

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