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Ulrike Poppe, Stasi-Beauftragte: "Das erste Denkmal, das an die Opfer erinnert."

© dpa

Zwangskollektivierung: Die Kälte des sozialistischen Frühlings

Vor 50 Jahren drängte die DDR ihre Bauern in Genossenschaften. An diesem Sonntag wird in Kyritz ein Gedenkstein eingeweiht.

Kyritz an der Knatter, eine kleine Stadt in der Prignitz, knapp 10 000 Einwohner. Knatter deshalb, weil hier einst Wassermühlen vor sich hinknatterten. Diesen Sonntag wird Kyritz Schauplatz eines Streits über die DDR-Geschichte. Es geht um Zwangskollektivierung oder Genossenschaftbildung in der Landwirtschaft vor 50 Jahren, es geht aber auch um die Deutungshoheit und um Nachfolgebetriebe der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG).

Der Bauernbund, der vor allem Familienbetriebe vertritt, weiht heute einen Gedenkstein ein – auf den Tag genau 50 Jahre nachdem Walter Ulbricht in einer Rede vor der Volkskammer die Gründung der LPGs für abgeschlossen erklärte. Die Inschrift auf der schlichten Bronzeplatte an dem zweieinhalb Meter hohen Findling lautet: „Den Opfern der Zwangskollektivierung im sogenannten sozialistischen Frühling 1960 in der DDR.“ Es kommt politische Prominenz, darunter Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer (CDU) und Ulrike Poppe, die brandenburgische Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. „Da sind immer noch Wunden“, sagt Poppe. „Es ist das erste Denkmal, das an die Opfer erinnert, die in die Genossenschaften gezwungen worden sind.“ Es kommen auch viele Bauern, die damals betroffen waren. Einer von ihnen ist Dietrich Meissner (71) aus Schrepkow in der Prignitz. 21 Monate saß er wegen staatsgefährdender Hetze in Haft, weil er sich über „einen von dieser Sorte Parteigenosse“ lustig gemacht hatte. „Die Nachwelt soll wissen, dass damals nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist“, sagt Meissner.

Ausgerechnet in Kyritz, für die Linke eine Provokation, aber auch für manchen Agrarfunktionär. Der Bauernbund war an mehreren Orten mit seiner Gedenk-Idee abgeblitzt, nur in Kyritz fand sich eine Mehrheit. Dort steht ganz in der Nähe schon ein Denkmal aus DDR-Zeiten, weil Wilhelm Pieck hier am 2. September 1945 als KPD-Vorsitzender die Bodenreform verkündet hat. Daher hielt die Linke-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung am Sonnabend eine Konferenz „aus Anlass des 50. Jahrestages des Abschlusses der Genossenschaftsbildung“ ab. Bauernbund-Geschäftsführer Reinhard Jung findet dafür harte Worte: „Das ist ein Schlag ins Gesicht der Entrechteten, dass die Roten Barone von einst heute ihre Erfolge feiern.“ Die brutale Zwangskollektivierung werde verharmlost.

Tatsächlich sind im sogenannten sozialistischen Frühling ab Mitte Januar 1960 etwa 400 000 selbstständige Bauern in die LPG gezwungen worden. Brigaden überrannten die Dörfer, stellten unwillige Bauern an den Pranger, Treibstoff und Düngerationen wurden gekürzt, Getreideabgaben erhöht, viele wurden verhaftet, es gab Brandstiftungen und Selbstmorde. Jung nennt es „Psychoterror“, Poppe spricht von „traumatischen Erfahrungen“. „Diese Zeit war an Brutalität und Zwangsmaßnahmen nicht zu übertreffen“, sagt der Historiker Jens Schöne, er ist Berlins stellvertretender Stasi-Beauftragter. „Es ging darum, die Macht der Partei in den Dörfern durchzusetzen, nicht um den ökonomischen Vorteil.“ Die Folgen waren verheerend: „Der Mauerbau wäre nicht erfolgt, wenn es nicht zu den Zwangskollektivierungen gekommen wäre. Die Erträge brachen ein, die Versorgung in den Städten wurde schlecht“, sagt Schöne. Allein in den ersten sechs Monaten flüchteten 1960 fast 5300 in der Landwirtschaft Beschäftigte aus der DDR.

Auch Ulrich Toppel (73) aus Sarnow (Prignitz) hat an Flucht gedacht. 50 Hektar Land, Tiere und Maschinen verlor seine Familie damals an die LPG und musste erleben, „wie alles heruntergewirtschaftet wurde“. Heute bewirtschaftet er wieder sein Land – und wäre schon zufrieden, wenn Schulklassen beide Denkmäler sehen. „Dann wissen die zumindest auch von unserem Teil der Geschichte.“

Es ist nicht allein das Denkmal, das den Streit anheizt. „Die Folgen des sozialistischen Frühlings belasten die ostdeutsche Agrarstruktur bis heute“, sagt Jung und macht das an einer Person fest. Bei der Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung sollte der Präsident des Bauernverbandes, der SPD-Landtagsabgeordnete Udo Folgart, auf dem Podium sitzen. Der Generalsekretär der brandenburgischen CDU, Dieter Dombrowski, spricht deshalb von „Verhöhnung“, Jung von einer „Beleidigung für alle freien Bauern“. Denn Folgarts Bauernverband vertritt zumeist genau jene Großbetriebe, die nach der Wiedervereinigung aus den Genossenschaften hervorgegangen sind. Sie prägen mit ihren riesigen Ackerflächen bis heute das Land.

Damit befasst sich auch die Enquetekommission des Landtags zum Umgang mit der DDR. Die Opposition will klären, wie Kleinbauern nach 1990 benachteiligt wurden, was bei den Genossenschaften schieflief. Die rot-rote Regierungskoalition warnte, hier solle die Bodenreform infrage gestellt werden.

Ja, es gab Zwangskollektivierung, sagt Bauernverbandssprecher Holger Brantsch. Aber östlich der Elbe habe es schon immer große Güter gegeben, bis 1945 gehörten sie Junkern, um wegen schlechter Böden ausreichend Erträge zu erwirtschaften. Auch die Linken-Agrarexpertin im Bundestag, Kirsten Tackmann, räumt ein, dass es „Unrecht, Druck und Gewalt“ gab. „Das war ein Fehler. Viele sind nicht freiwillig in die LPG gegangen, andere haben darin einen Vorteil gesehen“, sagt Tackmann, sie hat in Kyritz ihren Wahlkreis. „Eine Debatte darüber ist wichtig. Ich bin aber gegen eine einseitige Betrachtung.“ Zudem gehe es bei der Konferenz auch um Genossenschaftsmodelle, die heute kleineren Betrieben eine Chance böten, und um den sozialistischen Frühling – die „Irrungen und Wirrungen“.

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