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Prekäres Bündnis. André Poggenburg (zweiter von links) und Jörg Meuthen (ganz rechts) trennen Welten. In der Mitte AfD-Vorsitzende Frauke Petry.

© REUTERS

Rechtspopulismus: AfD - die Chamäleonpartei

Die AfD ist ein Bündnis von Eliten und Outsidern, von konservativen Professoren und frustrierten Kleinbürgern. Sie eint die Lust am Vulgären und die Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Ein Essay.

Spätestens seit den Landtagswahlen vor drei Wochen wissen wir, dass die neue deutsche Protestpolitik sehr unterschiedliche Gesichter trägt. Hinter den zweistelligen Ergebnissen von der Altmark bis an den Bodensee verbirgt sich eine komplizierte Gemengelage sozialer Strömungen und politischer Profile, die im Auftreten der Spitzenkandidaten von Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt sinnfällig wurde: hier der ganz und gar bürgerliche Wirtschaftsprofessor Jörg Meuthen, der ein entschieden marktliberales Profil mit gesellschaftspolitischem Konservatismus zu verbinden sucht – dort der nationalistische Agitator André Poggenburg, den trotz seines Unternehmerberufes das Ambiente des bildungsfernen Verliererprotestes umweht. Zwar lässt sich von der politischen Position, erst recht vom persönlichen Habitus des Spitzenpersonals in keiner Partei unmittelbar auf die Anhänger- und Wählerschaft schließen. Schließlich sind Mannheim und Pforzheim, wo die AfD ihre beiden Direktmandate holte, nicht mit Freiburg und Tübingen, nicht mit Hochburgen des Bildungsbürgertums zu verwechseln. Und regionale Unterschiede in Mentalitäten und Sozialstruktur, nicht nur zwischen dem Osten und dem Westen des Landes, erscheinen in der neuen Chamäleonpartei nur wie in einem Vergrößerungsspiegel.

Es ist der Protest von Eliten und zugleich Aufstand gegen die Eliten

Aber offensichtlich bietet die AfD zwei Bewegungen eine Heimat, deren Bündnis nicht selbstverständlich ist und möglicherweise auch nicht von Dauer sein wird. Sie ist zum einen der Versuch, im deutschen politischen Spektrum den verwaisten Platz eines bürgerlichen Konservatismus neu zu definieren, mit akademischen Titeln, Anzug und Krawatte – oder auch dem Gauland’schen Tweedsakko des britischen Tory. Sie ist zum anderen der kleinbürgerlich-proletarische Aufstand der Frustrierten, der System- und Elitenverächter, im Gewand des völkischen Nationalismus. Sie ist Protest von Eliten und Aufstand gegen die Eliten zugleich.

Richtig, genau so ist die Partei unter den Händen von Professor Bernd Lucke entstanden, der sich später naiv oder scheinheilig wunderte, dass ihm die falschen Leute zugelaufen seien. Dennoch ist das Janusgesicht der AfD, mit ihrem Konservatismus und Populismus, mit ihrer Bürgerlichkeit und Anti-Bürgerlichkeit, keine blanke Selbstverständlichkeit – und für die Partei Konstruktionsprinzip und Konstruktionsfehler zugleich, auch was ihre Chancen auf dauerhafte Etablierung betrifft. Nicht nur in der „Systemfrage“ trennen Meuthen und Poggenburg Welten, grundsätzlicher als jemals zwischen Realos und Fundis bei den Grünen. Und in der praktischen Programmarbeit und Landtagspolitik wird sich zeigen müssen, ob der Spagat zwischen Marktwirtschaft und populistischer Gefälligkeitsökonomie aushaltbar ist.

In den USA scharen sich die angry white men hinter Donald Trump

Der neue deutsche Populismus und Protest ist Teil einer größeren Bewegung in westlichen Demokratien, aber deshalb so wenig „Normalität“, wie die Mehrheit der Franzosen den Front National für normal halten, oder die Mehrheit der Amerikaner Donald Trump. Die Parallelen zwischen den USA und Deutschland, zwischen den angry white men, die sich hinter dem New Yorker Immobilienmogul scharen, und den deutschen Angst- und Ärgerbürgern sind frappierend, und doch zeigt ein Seitenblick auf die USA, wie wenig selbstverständlich das Doppelgesicht der AfD ist. Donald Trumps Populismus ist prinzipienlos; einen konservativen Programmplatz versucht er nicht zu besetzen – im Gegenteil: Die Konservativen in der Republikanischen Partei hat er sich zu entschiedenen Gegnern gemacht, und zwar nicht nur diejenigen des Washingtoner Establishments, sondern auch die Konservativen der Tea Party, der Graswurzelbewegung des rechten Anti-Eliten-Protests. Mauer gegen Mexiko, Distanz gegenüber der Nato, Schutz heimischer Arbeitsplätze: Zweifellos ist da ein roter Faden des Nationalismus und des ethnisch-nationalen Populismus erkennbar. Aber die Sehnsucht nach konservativer Erneuerung repräsentiert die Erfolge Trumps nicht, ebenso wenig wie Professoren, Akademiker, Bildungsbürger an der Spitze seiner Bewegung bisher sonderlich aufgefallen wären.

Bekämpft wird zugleich rationale wie moralische Politik

Der neue Populismus der postklassischen Demokratien Europas und Nordamerikas ist also, bei allen Gemeinsamkeiten, tief in den jeweiligen nationalen Traditionen von Parteiensystem und politischer Kultur verankert. In Deutschland lief der Trend der letzten Jahrzehnte umgekehrt zu dem in den USA: dort immer schärfere Polarisierung von rechts und von links, sodass sich Hillary Clinton bei den demokratischen Vorwahlen kaum gegen den Linkspopulisten Sanders zu behaupten vermag. Hier, bei uns, eine Bewegung zur Mitte, nicht zuletzt in der Verschiebung der rechten Volkspartei unter der Führung Angela Merkels. „Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir die Frauke herbei“, wenn der Horst sich nie recht entscheiden kann, sich dort hinzusetzen. Das prekäre Bündnis von konservativen Professoren, frustrierten Kleinbürgern und völkisch-rassistischem Extremismus ist also Ausdruck einer besonderen „Gelegenheitsstruktur“, wie Politikwissenschaftler sagen würden, die weder in Frankreich noch in Großbritannien noch den USA auf dieselbe Weise existiert.

Es bleibt eine Schrumpfethik der unmittelbaren Evidenz

Gleichwohl – ein politischer Zufall ist die seltsame Koalition nicht. Bei allen Spannungslinien, die Prognosen über die Zukunft der AfD schwierig machen, lassen sich doch Gemeinsamkeiten ausmachen, in denen die beiden Gesichter zur Überlagerung kommen – weniger in konkreten politischen Positionen, aber in kulturellen Grundhaltungen, in tief wurzelnden Einstellungen gegenüber der modernen Gesellschaft. Da ist zunächst das, was man – ausgehend vom Stile Trumps – die Politik des Vulgären nennen könnte. Nicht in dessen oft sexuell konnotierter Drastik tritt sie uns in Deutschland entgegen, aber in der kalkulierten Bereitschaft zur Überschreitung der Grenzen des Sagbaren, und nicht selten in die Richtung der Gewalt. Der Bruch mit den Konventionen des Anstands, der guten Sitten, des vernünftigen Umgangs ist Teil der kulturellen DNA der AfD und harmoniert bestens mit dem Gestus des Tabubruchs, der Professoren und Kleinbürger vereint: Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass der Euro uns in die Katastrophe führt. Und den Griechen müssen wir endlich und sofort den Geldhahn zudrehen. Unmittelbar, unbedingt, ohne falsche Zimperlichkeit, so lautet die Devise. Das gibt sich häufig als Aufstand gegen die Zumutungen der political correctness aus, zielt aber weiter, auf ein fundamental anderes Verständnis von Politik. Bekämpft wird, das ist bemerkenswert, beides: moralische Politik und rationale Politik, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik gleichermaßen. Was bleibt dann noch übrig? Vielleicht eine Schrumpfethik der unmittelbaren Evidenz oder dessen, was dafür gehalten wird.

Konservativer Snobismus trifft auf proletenhafte Restmännlichkeit

Zweitens überlagern sich die beiden Gesichter in ihrer altpatriarchalischen Männlichkeitswelt – man könnte auch pointierter sagen: in ihrem Antifeminismus. Auch hier scheint Donald Trump auf geheimnisvolle Weise als Vorbild zu dienen. Trotz markanter Frontfrauen wie Frauke Petry oder Beatrix von Storch sind beide Flügel der AfD von der Sehnsucht nach der guten alten Welt vor Frauenbewegung, Emanzipation und Gleichberechtigung durchzogen. Die einen bringen das im gutbürgerlichen Habitus zum Ausdruck, ein bisschen wie im verblichenen Kosmos studentischer Verbindungen, bei denen die „Damen“ gelegentlich an Veranstaltungen teilnehmen dürfen. Die anderen sind einer Männlichkeitskultur des Derb-Kumpelhaften nie entkommen und spüren nun, besonders im Osten Deutschlands, den Konkurrenzdruck der besser gebildeten, anpassungsfähigeren, sozial kompetenteren Frauen. Die geschlechterpolitischen Schräglagen in der Wählerschaft sind frappierend. Natürlich, das ist Teil eines weiteren gesellschaftspolitischen Leidens, das sich zugleich in der Ablehnung von Einwanderung, in der Angst vor kultureller Pluralisierung, vor dem Verlust der nationalen Identität ausdrückt. Aber es ist Zeit, den Antifeminismus der neuen Protestbürger nicht nur als eine Randerscheinung zu sehen.

Der Antifeminismus der neuen Protestbürger ist nicht nur eine Randerscheinung

Die kulturelle Gemeinsamkeit lässt sich, so könnte man diese Einsichten verallgemeinern, als Widerstand gegen den Verlust von Eindeutigkeit in der komplizierten Moderne des 21. Jahrhunderts deuten. In Wirklichkeit ist alles anders, als uns ständig vorgemacht wird! Es wäre doch so einfach, man müsste doch nur …! Früher waren Gut und Böse, Oben und Unten, Männer und Frauen, Deutsche und Andere noch klar sortiert! Die Sehnsucht nach einer Eindeutigkeit, die es so niemals gegeben hat, eint den intellektuellen Snobismus der bürgerlichen Edelkonservativen und die proletenhaften Instinkte abgesunkener Restmännlichkeit an der Peripherie der Gesellschaft. Und es stimmt ja, auch wenn man einer Romantisierung früherer Welten stets entschiedene Skepsis entgegenbringen muss: Die Dinge sind komplizierter geworden. Wer hat denn nun die Souveränität, der Nationalstaat oder die Europäische Union? In der klassischen Moderne griffen die binären Logiken: es war entweder das eine oder das andere – Eins oder Null, Nationalstaat oder Europa, Mann oder Frau. Ob in der Politik oder in fundamentalen gesellschaftspolitischen Fragen: an die Stelle der binären Logiken ist häufig eine „fuzzy logic“ getreten, verwischte, uneindeutige Zustände also, in denen Politik zu machen, oder überhaupt die eigene Welt zu begreifen, vielen nicht leicht fällt.

Die Modernisierungsgegner frönten schon immer der Kulturkritik

So ist die neue deutsche Protestkultur vor allem Ausdruck einer unverstandenen Modernisierung, bei einem Teil der Eliten, die schon immer und erst recht in Deutschland gerne einer Neigung zur Kulturkritik frönten, ebenso wie am Rand der Gesellschaft, der dem Zug der Veränderung verständnislos hinterherblickt, aus dem die Erfolgreichen, der liberale Mainstream der deutschen Gesellschaft fröhlich winkt. Dabei hat sich dieser Zug hierzulande durchaus langsamer in Bewegung gesetzt als anderswo, unter der Lokführerin Angela Merkel und ihrem Kurs einer moderaten, immer wieder eingebremsten Modernisierung. Aber auch im 19. Jahrhundert empfanden viele Menschen die ersten Eisenbahnen, die mit dreißig oder vierzig Stundenkilometern fuhren, als rasend schnell.

Die seltsame Koalition des neuen Populismus wird brüchig bleiben

Was wird sich durchsetzen? Wird die AfD ihre beiden Gesichter weiter tragen, ihren beiden Flügeln, die keineswegs bloß programmatische Flügel auf einem Rechts-Links-Spektrum sind, weiterhin politische Heimat bieten können? Trotz der tiefen kulturellen Gemeinsamkeiten wird die seltsame Koalition des neuen deutschen Populismus brüchig bleiben. Die Ankunft in den Parlamenten, der Zwang zur praktischen Politik hat schon in den vergangenen Jahrzehnten mancher populistischen Kraft den Garaus gemacht. So ist eines von vielen möglichen Szenarien, dass sich die AfD als eine bürgerlich-konservative Partei rechts von der Union etabliert, aber ihren populistischen underbelly dabei verliert. Im nächsten oder übernächsten Wahlzyklus sucht der heimatlose Populismus dann nach einer wiederum neuen Hülle, wie sie zuvor schon NPD, Republikaner, Schill-Partei und viele andere geboten haben. Oder, was nicht weniger wahrscheinlich ist: der bürgerlich-konservative Parteigründungsversuch scheitert, weil Liberalkonservative wie Meuthen ihm den Rücken kehren, während Petry und Gauland zugleich gegen die rechtsextremistischen Netzwerke kämpfen. Dazwischen bleibt dann wenig Raum, oder vielleicht ein Raum von der Größe, den schon seit Längerem Tierschutzpartei oder Familienpartei ausgefüllt haben.

Vielleicht etabliert sich die AfD rechts von der Union, verliert dann aber ihren populistischen underbelly

Die größere Frage aber ist die nach der kulturellen und sozialen Eingliederung des Protests, nach der Rückkehr des Protests in die demokratische Gesellschaft, der er sich im Moment fundamentalistisch entgegenstellt. Verärgerung über Europa? Aber ja! Fragen an den Wandel von Ehe und Geschlechteridentität? Gewiss! Kritik an den Medien, an den politischen Eliten? Selbstverständlich! Aber all das kann nicht im Zustand des Generalverdachts funktionieren, in einer Weltsicht, die alles und nicht zuletzt die eigenen Lebensverhältnisse zum Opfer von Verschwörung stilisiert. Den neuen Protestbürgern, egal ob im Anzug oder in der Jogginghose, möchte man deshalb vor allem zurufen: Traut euren Augen! Der Boden ist nicht so schwankend, der Abgrund längst nicht so nahe, wie ihr meint. Heraus aus dem falschen Film!

Paul Nolte ist Historiker, Publizist und Professor am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Außerdem ist er Präsident der Evangelischen Akademie in Berlin.

Paul Nolte

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