zum Hauptinhalt
Leben retten. Regisseur David France setzt für den Dokumentarfilm die neue digitale Face-Double-Technik ein, um die Anonymität der Betroffenen zu wahren.

© dpa

Doku über LGBT-Community: Menschenjagd

„Bei uns gibt es keine Schwulen.“ Eine Arte-Dokumentation schildert die Verfolgung der LGBT-Community in Tschetschenien.

Im Frühjahr 2017 setzte in Tschetschenien eine regelrechte Menschenjagd ein. Wer nicht der heterosexuellen Norm entsprach, lief in der russischen Teilrepublik Gefahr, willkürlich verhaftet, gefoltert und getötet zu werden. Homosexualität gilt in der vorwiegend muslimischen Gesellschaft ohnehin als Schande, zudem wird Tschetschenien von einem homophoben Diktator regiert, dem Moskau treu ergebenen Ramsan Kadyrow.

In einem HBO-Interview auf die Verfolgung von Homosexuellen angesprochen, antwortete Kadyrow, das sei Blödsinn. „Bei uns gibt es keine Schwulen.“ Und: „Falls es welche gibt, nehmt sie mit, um unser Blut zu reinigen.“ Auf eine Nachfrage des HBO-Reporters David Scott nannte er die Männer, die von Verhaftungen und Folter berichtet hatten, „Teufel" und "Untermenschen“.

Und so geht es dann auch zu in Tschetschenien. Schockierende Handyvideos dokumentieren in dem US-Dokumentarfilm „Welcome to Chechnya“ – die deutsche Fassung trägt leider mit „Achtung Lebensgefahr!“ einen Titel, der eher an plumpes Reality-TV erinnert – den Hass und die Gewalt: Zwei Jugendliche, die sich heimlich in einem Auto treffen, werden von Männern beschimpft und geschlagen. Eine Trans-Person wird auf offener Straße angegriffen („Achtung Lebensgefahr! LGBT in Tschetschenien“, Arte, am Dienstag, um 21 Uhr 50).

Ein homosexueller Mann wird vergewaltigt, während der Täter aus dem Off von anderen Personen angefeuert wird. Eine Frau wird aus einem Auto gezerrt, ein Mann holt einen großen Stein und holt aus, um ihn auf die Frau zu schleudern – der Filmschnitt verhindert, dass die Ermordung einer lesbischen Frau durch die eigene Familie tatsächlich zu sehen ist.

Womöglich ist es unumgänglich, solche Szenen zu zeigen, um eine vage Vorstellung von der Bedrohung zu bekommen, unter der Homosexuelle und Trans-Personen nicht nur in Tschetschenien leiden. Aber weniger aus diesem Grund ist das vom US-amerikanischen Pay-TV-Sender HBO in Auftrag gegebene Werk „Welcome to Chechnya“ eines der eindrucksvollsten filmischen Zeugnisse der vergangenen Jahre für den Kampf um Menschenrechte.

Den Namen zu ändern, ist allerdings das geringste Problem

Denn Filmautor David France hat nicht nur konkrete Beispiele gesammelt, mit den Opfern gesprochen, deren Angst und Traumatisierung sowie die weitreichenden Folgen für deren Familien dokumentiert. Er schildert auch auf dramatische Weise, wie das internationale LGBT-Netzwerk versucht, Menschen vor weiterer Verfolgung zu bewahren. Russische Aktivist:innen organisieren in Windeseile Rettungsaktionen, bringen Betroffene in sichere Häuser nach Moskau, besorgen Visa für die Ausreise ins Ausland.

Wenn einer jungen, lesbischen Frau die Flucht innerhalb weniger Stunden gelingen muss, weil ihr Vater „ein hohes Tier in der Regierung“ ist, dann ist das spannender als jeder Krimi – nur leider ist es die Wirklichkeit.

In den ersten beiden Jahren seit Beginn der homophoben Kampagne wurde auf diese Weise 151 Menschen zur Flucht verholfen, heißt es im Abspann. Dafür wurden bei der Berlinale 2020 die wichtigsten Protagonist:innen des Films, David Isteev, Olga Baranova und Maxim Lapunov, mit dem „Teddy Activist Award“ ausgezeichnet.

[Mehr Neuigkeiten aus der queeren Welt gibt es im monatlichen Queerspiegel-Newsletter des Tagesspiegel - hier geht es zur Anmeldung.]

„Welcome to Chechnya“ gewann in Berlin zudem den Panorama Publikumspreis und den von Amnesty International vergebenen Filmpreis und lief weltweit auf zahlreichen Festivals.

Maxim Lapunov, ein russischer Homosexueller, der in Tschetschenien arbeitete und dort verhaftet und gefoltert worden war, heißt im Film allerdings erst einmal „Grischa“. Denn die meisten Protagonist:innen dürfen zu ihrem Schutz nur anonymisiert auftreten. Den Namen zu ändern, ist allerdings das geringste Problem, aber man kann schlecht einen kompletten Film fast nur mit verpixelten Gesichtern bestreiten.

Also wurde hier die Deepfake-Software mal zu etwas Sinnvollem benutzt: Alle Gesichter der bedrohten Personen wurden digital verfremdet. Erst als Maxim Lapunov alias „Grischa“ in Moskau mit seinem Klarnamen vor die Presse tritt, um öffentlich die tschetschenische Menschenjagd zu bezeugen, fällt auch im Film die Deepfake-Maske.

Seine Anzeige hatte in Russland allerdings keine Folgen. Ein Amtsrichter verkündet knapp, es werde kein Verfahren eröffnet. Der Kreml hatte schon nach den ersten Berichten in internationalen Medien verlauten lassen, dass die russische Regierung von Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien nichts wisse.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false