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Die Sehnsucht nach einer heilen Welt umfasst Jung und Alt (Symbolbild). 

© Gestaltung: Tagesspiegel/Glage; Fotos: imago, freepik

Die Generation Gestern und ihre Sehnsucht nach einer heilen Welt: Ihr sagt, früher war alles besser – aber stimmt das?

Ein Eigenheim mit 30 und Wohlstand für alle? Viele Jüngere verklären die Vergangenheit. Diese gegenwartsfeindliche Stimmung birgt Gefahren.

Malte Lehming
Ein Essay von Malte Lehming

Stand:

Es war einmal ein Deutschland, in dem Arbeit zu Wohlstand führte, ein Eigenheim schon für 30-Jährige erschwinglich war und Aufstiegschancen aus Leistungsbereitschaft resultierten.

Heute hingegen wird alles immer teurer, von der Miete bis zum Urlaub. Arbeit lohnt sich nicht mehr, weil überall Massenentlassungen drohen. Außerdem häufen sich die Krisen, vom Klima zu Corona, von Gaza zur Ukraine.

Das ist die Zeitrechnung vieler junger Menschen. Sie sehnen sich nach einer Vergangenheit, die sie selbst nicht erlebt haben. Es ist also keine wirkliche Nostalgie, die sie umtreibt, sondern eine erdachte. Weil die Gegenwart als schwierig empfunden wird, muss die Vergangenheit einfach gewesen sein. Das ist zwar nicht logisch, fühlt sich aber so an.

„Früher war alles besser“, sagen auch alte Menschen und bekommen feuchte Augen, wenn sie an eine anständige Jugend, niedrige Kriminalität, steigende Einkünfte und ein Wirtschaftswunder denken. Die Welt schien heil gewesen zu sein, damals. Jetzt ist sie kaputt.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass in diese generationsübergreifende Stimmung hinein der Rechtspopulismus gedeiht. Donald Trumps zentraler Slogan „Make America Great Again“ suggeriert ebenfalls ein Gestern, das groß war und wiederhergestellt werden muss.

Eine „Radikalisierung nostalgischer Einstellungen“

Worin diese Größe bestand, wird nicht gesagt, allenfalls angedeutet. Glaube, Vaterland, zwei Geschlechter, „ehrliche Arbeit“ – das sind rhetorische Versatzstücke, die den Zweck erfüllen, möglichst breit anschlussfähig zu sein. Wissenschaftler nennen das eine „Radikalisierung nostalgischer Einstellungen“.

Muss man wirklich an die Realitäten dieses „Gestern“ erinnern, nach dem sich Jung und Alt sehnen? Ja, man muss. Da wären dann etwa die 11,3 Prozent Arbeitslose unter Gerhard Schröder, die Lehrerschwemme und das Phänomen der Akademiker als Taxifahrer.

Da wären die Urlaubsreisen der DDR-Deutschen, die zumeist auf sozialistische Bruderländer beschränkt waren. Nur zum Vergleich: Im vergangenen Jahr haben Deutsche für ihre Urlaubsreisen 83 Milliarden Euro ausgegeben, ein neuer Rekord.

Wie sah es zu Hause aus? Der Mann ging arbeiten, die Frau kümmerte sich um Haushalt, Kinder, Einkauf, Pflege. Im Westen wurden Vorschulkinder überwiegend in der Familie betreut, Kindergärten galten als „Aufbewahranstalten“. Das änderte sich erst mit dem Pisa-Schock 2001. Im Osten dagegen war die Kinderbetreuung flächendeckend organisiert.

Was tun? Das ist die Frage, die gestellt werden muss. Wer sein Heil in einem imaginären Gestern sucht, wird die Antworten nicht finden.

Malte Lehming

Die Betreuung von Senioren wiederum galt lange Zeit hier wie dort als Privatangelegenheit von Familienangehörigen. Also häuslich und unbezahlt, jedenfalls bis zur Einführung der Pflegeversicherung.

So könnte die Aufzählung weitergehen – von Krankheiten, gegen die es noch keine Medikamente gab, über die geringere Lebenserwartung bis zum rudimentären Medienkonsum mit zwei öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten und keinen Handys.

Als noch mit Kohle geheizt wurde

Zurück in diese Zeit, wirklich? Als noch mit Kohle geheizt wurde und Mietparteien sich eine Toilette im Hausflur teilten, was besonders bei Durchfallerkrankungen zu recht unschönen Szenen führte. Als ältere Lehrer und Richter ihr Handwerkszeug noch in der Nazi-Zeit gelernt hatten.

Nun gibt es in der Tat drei Bereiche, bei denen die nicht mehr ganz so jungen Deutschen eine Bringschuld gegenüber der jungen Generation haben: beim Klima, bei der Rente und bei den Erbschaften.

Die Folgen des Klimawandels drangen zu spät ins Bewusstsein, die Kosten der Rente wurden zu spät thematisiert, die Ungleichheit bei der Vererbung – 300 bis 400 Milliarden Euro jährlich – ist ein sozialer Skandal, weil die Reichen immer reicher werden und die Armen arm bleiben.  

Was tun? Das ist die Frage, die gestellt werden muss. Wer sein Heil in einem imaginären Gestern sucht, wird die Antworten nicht finden.

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