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Berlin: 1. Mai: Fäuste, Biere, Liebespaare

Karl Marx und Friedrich Engels haben keine rote Nelke im Knopfloch; sie stehen und sitzen, den Blick starr aufs Feiervolk gerichtet, auf ihrem Denkmalsockel am Rande des Geschehens. In diesem Moment strömt der revolutionäre Teil der multikulturellen Gesellschaft dieser Stadt auf den Platz vor dem Roten Rathaus: "Zerschlagt die Isoknäste in der Türkei", fordert ein Transparent, das mit musikalischer Begleitung vor die Bühne der zentralen DGB-Kundgebung getragen wird.

Karl Marx und Friedrich Engels haben keine rote Nelke im Knopfloch; sie stehen und sitzen, den Blick starr aufs Feiervolk gerichtet, auf ihrem Denkmalsockel am Rande des Geschehens. In diesem Moment strömt der revolutionäre Teil der multikulturellen Gesellschaft dieser Stadt auf den Platz vor dem Roten Rathaus: "Zerschlagt die Isoknäste in der Türkei", fordert ein Transparent, das mit musikalischer Begleitung vor die Bühne der zentralen DGB-Kundgebung getragen wird. Dort halten starke Fäuste schon so viele, so breite wie hohe rote Spruchbänder, dass kein Mensch sehen kann, wer eigentlich von der Bühne zu ihnen spricht. "Biji 1 Gulan!" heisst auf gut Türkisch "Es lebe der 1. Mai", wenigstens dies erfährt der des Türkischen Unkundige, weil es in Deutsch darunter steht. Jetzt kommt von links eine kleine Kulturgruppe; die Frauen haben rote, die Männer dunkelblaue Gewänder, golddurchwirkt. Ab und zu stößt einer einen spitzen Schrei aus, den Takt gibt eine Trompete an, grazil bewegen sich die Paare, zwei Schritte vor, zwei zurück. Plötzlich wirft einer Flugblätter in die Luft, und es regnet Sprüche: "Nieder mit der faschistischen Diktatur in der Türkei".

Zum Thema Online Spezial: Die Mai-Krawalle in Kreuzberg Bilder des Tages: Kundgebungen am Tag, Randale in der Nacht Auf der Bühne spricht jetzt die Kreisvorsitzende des DGB, Ursula Schäfer. Die Sonne scheint, der Zapfhahn läuft, die Bratwurst duftet und die Stimmung ist himmelblau - da kann man schon mal heftig übertreiben und 18 000 Teilnehmer begrüßen. Ursula Schäfer erläutert das Motto der Kundgebung "Zukunft baucht alle Köpfe - Mitbestimmung gewinnt", indem sie in die Menge ruft: "Die Zukunft braucht die Köpfe von Männern und Frauen! Sie braucht die Köpfe von Querdenkern, die Köpfe der Mutigen und vor allem die Köpfe und Herzen der Menschen, die sich in die Situation der Menschen in dieser Stadt hineinversetzen können. Köpfe, die die Ängste und Hoffnungen der Menschen als ihren persönlichen Auftrag sehen, die Zukunft zu verändern und diese zu verbessern", und sie fügt hinzu: "Macher, Realpolitiker, Pragmatiker, Bürokraten und Wankelmütige, die uns sagen, welche Richtlinien wir eventuell übertreten, haben wir fürwahr genug. Es ist Zeit für einen neuen Aufbruch in der Stadt Berlin".

Während vorn, an der Bühne, den offiziellen Referaten gelauscht wird, redet im hinteren Teil des Rathausvorplatzes alles durcheinander. "Das ist doch hier immer so etwas wie ein großes Familientreffen", sagt ein Gewerkschafter. Die Männer trinken ihr Bierchen, die Frauen der ÖTV verkaufen Kuchen und Kaffee. Alle scheinen sich irgendwie zu kennen. Es ist gemütlich. Eine kleine Gruppe, die sich "Linksruck" nennt, "Nein zur Bonzenstadt Berlin" schreit und "Demokratie statt Kanzlerherrschaft" fordert, wird ebenso wenig beachtet wie ein Stand der Spartakisten, die noch immer oder schon wieder den deutschen Imperialismus "durch Arbeiterrevolution" stürzen wollen. "Nieder mit dem SPD/Grünen Staatsterror gegen Linke": Die Maikundgebung hat viele Farben, Formen und Vergnüglichkeiten.

Da ist diese Gruppe junger und alter Männer in schweren schwarzen Cordanzügen - Tischler und Zimmerleute gehen standesbewusst ("weil wir Arbeiter sind!") zur 1.-Mai-Kundgebung. Die Jungen haben von den Alten gelernt, dass man an diesem Tage Flagge zeigt - für die beiden, die gerade bei ihrer dreijährigen Wanderschaft durch Deutschland ("unser zweiter Bildungsweg") in Berlin Station gemacht haben, ist es "eine Freude und Ehre, hier dabei zu sein". Ehrbar, rechtschaffen - lange nicht gehört, diese Worte. Der junge Mann mit dem schwarzen Zylinder, der morgen wieder Berliner Altbauten saniert, sagt sie wie selbstverständlich, und nach einem langen Schluck aus dem gelben Glas fügt er auf die Frage, wie es ihm denn so ginge, treuherzig hinzu: "Viel Arbeit und wenig Lohn".

Und da, in diesem Moment, während des vorletzten Redners, mitten im beginnenden Volksfest, das bis in den späten Abend dauern sollte, baut sich eine Schalmeienkapelle auf und beginnt zu blasen. Dieser unverwechselbare, langgezogene, leicht singende Trötenton ruft nun die Brüder zur Sonne, zur Freiheit, zum Lichte empor - und ein Mann steht von seinem Bier auf, stützt die eine Hand auf seine Krücken und hebt die andere, zur Faust geballt, empor. Karl Marx da hinten sagt zu seinem Kumpel: "Siehste, wenigstens einer", und der Mann verharrt, bis der letzte Ton verklungen ist. Ich frage ihn, was ihn bei diesem alten Arbeiterkampflied heute bewegt, und er sagt: das Recht auf Freiheit. "Ja, Freiheit! Jedes Jahr werde ich sie fordern, bis ich eines Tages tot bin". Der Mann wohnt im Wedding, hat einst bei der Deutschen Reichsbahn gearbeitet, sollte immerzu in die SED oder SEW eintreten, "was ich aber nicht gemacht habe. Nur in den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund bin ich gegangen - wegen der Freiheit in dem Namen dieses Vereins". Der Mann zählt seine Berufe auf, die er nun nicht mehr ausüben kann, und dann fragt er den Berichterstatter: "Haben Sie mal zwei Mark für ein Bier?"

Nun möchten wir gucken, wie es beim Volksfest ist. Auf dem Weg in die U-Bahn gedenken wir für einen Moment der 400 000 Werktätigen, die um diese Zeit an diesem Ort auf dem Alex anno 1989 von der letzten machtvollen 1.-Mai-Demonstration ihres Lebens in die U- und S-Bahn oder in die Kneipen strömten, nachdem sie vorher Fahnen, Wink-Elemente und die auf Haltegriffe genagelten Pappköpfe der führenden Genossen in bereitstehende Lastwagen geworfen hatten. Manche von denen, die damals grüßend an der Tribüne in der Karl-Marx-Allee vorübergezogen waren, sitzen nun dicht an dicht gemütlich auf dem Rand des Alex-Brunnens und hören zu, was die Redner auf der Kundgebung ihrer PDS zu sagen haben. Es ist das, was sie schon wissen.

Zwei U-Bahn-Stationen weiter ist weder Kampf noch Sieg, da sind Essen, Trinken, Dösen, Spielen, Hören, Küssen, Kaufen und "Brüder, in eins nun die Hände" - Liebespaare kuscheln auf den Bänken vor den Restaurants, essen mittags ihr Frühstück, Kinder juchzen auf kleinen Karussells, und "Qirex", eine Band, beschallt das Platz-Idyll gewaltig - das Multikulturelle schwingt an den Verkaufsbuden im Sommerwind, fünf Ponys können (für drei Mark 50 pro Ritt) bestiegen werden, es ist so friedlich wie am Abend zuvor, als die Walpurgisnacht Tausende zum Kollwitzplatz zog - ja, Feuerspucker waren auch dabei, und viele schöne Hexen, wohl geformt. Aber die konnte man auch gestern auf Schritt und Tritt treffen, leider waren meistens auch Teufel dabei.

Und, um die Betrachtung eines bis zum Nachmittag sehr friedlichen 1. Mai zu beenden: Wie steht es da, wo weder Volksfest angesagt ist noch Kundgebung noch sonst etwas - wie zeigte sich der Potsdamer Platz? Beruhigend schön. Unter dem Sony-Dach genossen die Ausflügler in unsere hochgestylte Mitte das große Ganze, das Vereinigte und das Neue - Alex, Lindenbräu und Josty zeigten, was in ihnen steckt, und die Gäste am Eisbecher und Latte Macchiato verfuhren nach dem Motto "Sehen und gesehen werden" - wenn man schon nicht nach Wannsee oder zum Müggelsee gefahren war, dann sollte wenigstens hier die Seele baumeln. Eine Maibowle, bitte!

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