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Auf dem Weg an die Front. Bilder wie diese mit abrückenden Soldaten Unter den Linden waren vor 100 Jahren Alltag in Berlin. Auf einen brauchbaren Stahlhelm musste das Heer noch bis 1916 warten.

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100 Jahre Erster Weltkrieg: So erlebte Berlin den Kriegsausbruch

Donnerworte und Kriegsgebete: Wie im Fieber taumelten die Berliner durch den Tag, an dem der Erste Weltkrieg begann. Noch heute kann man sich die Rede Wilhelms II. anhören. Dabei hat er sie niemals gehalten.

„So muss denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! Zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande.“ Berühmte Worte. Berüchtigte Worte. Worte, mit denen der Erste Weltkrieg begann, ausgesprochen zu Berlin von Seiner Kaiserlichen Majestät Wilhelm II. und gerichtet „An das deutsche Volk“, in den ersten Augusttagen 1914.

Kaiser Wilhelm II. trat erst am 10. Januar 1918 vor ein Mikrofon

Genaugenommen am 6. August, dem Tag, als die Rede im Reichsanzeiger veröffentlicht und alsbald in den Zeitungen abgedruckt und auf Flugblättern verteilt wurde. So weit, so richtig. Aber gehalten hat Wilhelm diese Rede nie, jedenfalls nicht im August 1914 und nicht vor Publikum. Erst am 10. Januar 1918, als von Kriegsbegeisterung schon lange nichts mehr zu spüren war, trat der Kaiser vor ein Mikrofon, unter der Anleitung des Sprachforschers Wilhelm Doegen, der allerlei historisch bedeutsame Zeitgenossen wichtige Reden nachsprechen ließ und diese für die Nachwelt aufnahm. Auch die markigen Worte Wilhelms kamen, nach einigen Probeaufnahmen, erst damals zustande. Jeder, der will, kann sie sich heute etwa via Internet anhören – „The Kaiser’s Speech“, wenn man so will.

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Doch wenngleich den Deutschen im Allgemeinen und den Berlinern im Besonderen diese Rede als Rede vorenthalten blieb, so wurden ihnen doch damals genug Donnerworte um die Ohren gehauen. Eine historische Stunde jagte die andere, wie im Fieber taumelte das Land dahin. Jeden Tag neue Schlagzeilen über die sich Schritt für Schritt verschärfende Krise, jeden Tag neue um Redner versammelte Menschenansammlungen. Am 30. Juli war abends die russische Generalmobilmachung verkündet worden, tags darauf ergingen deutsche Ultimaten an den Zaren, dies rückgängig zu machen, und an Paris, sich neutral zu verhalten. Und am selben Tag trat Wilhelm zum ersten Mal anlässlich des aktuellen Konflikts hinaus auf den Balkon über dem Portal IV des Berliner Stadtschlosses, demselben, von dem aus gut vier Jahre später Karl Liebknecht vergeblich die sozialistische Republik ausrufen sollte, und wandte sich an die zu Zehntausenden unter ihm im Lustgarten versammelten Berliner – eine erste Einstimmung auf den kaum noch abzuwendenden Krieg. Seine abschließende Empfehlung: „Geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!“

Viele waren schwer beeindruckt, so auch der Maler Max Liebermann, der die Szene auf einer Ende August veröffentlichten Ausgabe der „Kriegszeit – Künstlerflugblätter“ festhielt, zu erwerben für 50 Pfennig, die allerdings „für gemeinnützige Zwecke bestimmt“ waren. Mit Macht war der Krieg auch in den Alltag der Künstler eingedrungen.

Sonntagsspaziergang durch den Schützengraben

Nicht nur vor dem Schloss konnte man an diesem Tag von den düsteren Wolken hören, die sich über Europa zusammenzogen. Vor dem Zeughaus Unter den Linden, nicht weit vom Standbild Friedrichs II., verlas ein Leutnant eine Proklamation über den „Zustand drohender Kriegsgefahr“, umgeben von einer durch Soldaten auf Abstand gehaltenen Menschenmenge.

Am 1. August war es so weit: Kriegserklärung an Russland, erneuter Auftritt Wilhelms auf dem Balkon: „Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr, wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.“ Über die Linden und andere zentrale Orte der Stadt flogen jetzt die Extrablätter der Zeitungen, „Zu den Waffen!“ hatte etwa die „Deutsche Tageszeitung“ fett auf ihre Titelseite gedruckt und dies in den Schaukästen des Verlagsgebäudes gleich in Serie aufgehängt.

„Kniet nieder vor Gott“ – das taten die Berliner zwar nicht am 2. August, aber der Aufforderung zum frommen Gebet waren sie in einer schier unüberschaubaren Menge gefolgt: Kriegsgottesdienst auf dem Königsplatz, wie der Platz der Republik damals hieß, die Siegessäule und das Standbild des Eisernen Kanzlers Bismarck noch ganz nah. Sogar auf der Auffahrt zum Reichstag drängten sich die Besucher, und ein paar vorwitzige Jungens waren an den Säulen in die Höhe geklettert, soweit deren Basis das zuließ.

Der Magistrat warnte vor Hamsterkäufen

Bei so viel patriotischem Überschwang konnte auch der Magistrat nicht schweigen, erließ daher am 3. August, dem Tag der Kriegserklärung an Frankreich, einen Aufruf an die Berliner. Es war das zu erwartende Beschwören von „Opfermut und Selbstzucht“, von „Tapferkeit bis ans Ende“, von „deutschem Wesen und deutscher Kultur“, die es zu schützen gelte – aber zugleich eine Warnung vor Hamsterkäufen, Spekulationen mit höheren Lebensmittelpreisen oder der Verantwortungslosigkeit, „in der Stunde ernster Bedrohung des Reichsgebietes seinen Groschen aus den öffentlichen Kassen oder Geldinstituten in den eigenen Strumpf zu bringen“. Der Reichstag wurde am 4. August auf den Krieg eingeschworen: Zusammenkunft im Weißen Saal des Schlosses, Wilhelm mit Helm auf dem Kopf, erst hier fiel der berühmte, auf der zweiten Balkonrede bereits vorformulierte Satz „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“ Die Parteiführer sollten vortreten und ihm dies „in die Hand geloben“, was sie mit viel Hurra auch taten.

Tags darauf war Kriegsbettag, von Wilhelm persönlich angeordnet. „5 Gottesdienste haben wir gehalten. Als die Kirche um 10 Uhr gefüllt war, holten Gemeindediener die nicht beschäftigten Pastoren aus ihrer Studierstube, und im Nu waren der Gemeindesaal besetzt und die Treppen, dann musste der Jünglingssaal aufgeschlossen werden“ – so hieß es beispielsweise aus Friedenau. Abendmahlfeiern wurden verlangt, wenn der Befehl zum Ausrücken ins Feld kam, und viele junge Paare ließen sich schnell noch trauen.

Mit den klassischen Vergnügungen war es bald vorbei: Noch im August wurden Theatervorstellungen abgesetzt, Museen geschlossen, der öffentliche Verkehr und der Stromverbrauch eingeschränkt. Noch sollte es bis Januar 1915 dauern, dass Getreide und Fleisch unter behördliche Kontrolle gestellt wurde, und erst am 23. Februar wurden in Berlin als erster deutscher Stadt Brotkarten ausgegeben – Vorahnung künftiger Hungerjahre, mit dem Steckrübenwinter 1916/17 als Tiefpunkt. Immerhin boten, wenn schon Theater zu blieben, doch die Straßen anfangs noch Unterhaltung: Siegesgewiss marschierende Soldaten, stolz neben ihnen einherschreitende Ehefrauen und Kinder, und im zweiten Kriegsjahr sogar fürs Sonntagsvergnügen Schau- und Übungsschutzgräben, zur Besichtigung freigegeben. Und die Berliner taten das, was sie bei solchen Gelegenheiten immer tun: Sie standen Schlange.

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