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Der Molkenmarkt und Spandauerstraße in Berlin-Mitte vor 100 Jahren.

© imago/Arkivi

100 Jahre Groß-Berlin: Wie die einst zerrissene Stadt vom Zweckverband zur Einheitsgemeinde wurde

Schon vor der Gründung Groß-Berlins 1920 gab es Versuche, die Stadt und ihr Umland unter ein Dach zu bekommen. Es blieben halbherzige Kompromisse.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Für Friedrich Freund gab es keine Zweifel, dass es mit der Reichshauptstadt so nicht weitergeht. „Das Problem des kommunalen Groß-Berlin ist seit Jahren lösungsreif“, schrieb er am 19. März 1919 in einem Gastbeitrag für die Vossische Zeitung.

Seit einigen Monaten war der Unterstaatssekretär im preußischen Innenministerium nicht nur daran beteiligt, für den neuen Freistaat eine demokratische Verfassung zu erarbeiten. Der liberale Jurist, der sich nach der Novemberrevolution der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) anschloss, kümmerte sich auch um die Verwaltungs- und Kommunalreform in Preußen.

Eindringlich warnte Freund in seinem Artikel, der in der Morgenausgabe der traditionsreichen Zeitung breiten Raum einnahm, vor halbherzigen Kompromissen. Eine schnelle Lösung müsse her, im Sinne einer Einheitsgemeinde. „Sonst brechen die Arbeitergemeinden des Ostens und Nordens unter der Last der durch den Krieg verursachten Ausgaben zusammen.“

Noch waren das alte Berlin und dessen Nachbarn nur in einem Zweckverband lose miteinander verknüpft. Ein Zusammenschluss, dem seit April 1912 neben Berlin die Städte Charlottenburg, Lichtenberg, Neukölln, Schöneberg, Spandau, Wilmersdorf und die Landkreise Teltow und Barnim angehörten. Wenig später kamen Köpenick und die Landgemeinden Friedenau und Lichterfelde, Pankow und Reinickendorf, Steglitz und Weißensee hinzu.

Ansonsten machte jeder Seins

Mit „höchsteigenhändiger Unterschrift und beigedrucktem Insiegel“ hatte Kaiser Wilhelm II, der auch König von Preußen war, das Zweckverbandsgesetz für Groß-Berlin am 19. Juli 1911 an Bord der Kaiserjacht M.J. Hohenzollern erlassen.

Am 1. April des nächsten Jahres trat es in Kraft und regelte in 40 Paragrafen – nicht viel. Der Kommunalverband zur „Selbstverwaltung seiner Angelegenheiten“, wie es im Gesetz hieß, sollte sich um drei Dinge kümmern: Die Koordinierung des öffentlichen Schienennahverkehrs (mit Ausnahme der Staatseisenbahnen), die Mitwirkung an Fluchtlinien- und Bebauungsplänen im Großraum Berlin sowie den Kauf und die Pflege von Wäldern, Parks, Wiesen und Seen.

Ansonsten machte jeder Seins. In jenen Jahren gab es im Großraum Berlin 15 Elektrizitätswerke, 17 Wasser- und 43 Gaswerke sowie fast 60 Kanalisationsbetriebe. Krankenhäuser und Schulen wurden von Berlin, den Nachbarstädten und Landgemeinden getrennt verwaltet, wichtige hoheitliche Aufgaben wie Justiz und Polizei hatten verschiedene Dienstherren.

Überfluss. Vor dem Zusammenschluss gab es im Großraum Berlin 15 Elektrizitätswerke, 17 Wasser- und 43 Gaswerke sowie fast 60 Kanalisationsbetriebe. Auch Justiz und Polizei hatten verschiedene Dienstherren.
Überfluss. Vor dem Zusammenschluss gab es im Großraum Berlin 15 Elektrizitätswerke, 17 Wasser- und 43 Gaswerke sowie fast 60 Kanalisationsbetriebe. Auch Justiz und Polizei hatten verschiedene Dienstherren.

© imago images / Panthermedia

Auch beklagte der Berliner Magistrat in einem Verwaltungsbericht die „postalische Zerreißung der politischen Gemeinde“. Nicht einmal die Briefzustellung war einheitlich geregelt. Alles in allem ein unhaltbarer Zustand. Schon 1910 hatte Berlin mehr als zwei Millionen Einwohner, im Umland lebten weitere 800 000 Menschen. Der explosiv wachsende Ballungsraum litt unter einem kommunalen Chaos.

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Erbitterter Widerstand erzkonservativer Kräfte

Noch als Geheimer Oberregierungsrat hatte Friedrich Freund im preußischen Innenministerium das Konzept für einen Zweckverband erarbeitet, der den Problemen einer wildwüchsigen Industriemetropole gewachsen sein sollte.

Zuständig für die kommunale Versorgung mit Gas, Wasser und Strom, für den Neubau von Straßen und deren Unterhaltung, für die Bebauungsplanung und das Gesundheitswesen. Darüber hinaus sollte der Verband seine Zuständigkeiten auf alles ausdehnen können, dessen „gemeinschaftliche Wahrnehmung sich als notwendig ergeben würde“. Die Vertreter sollten direkt gewählt werden, um die Organe demokratisch zu legitimieren.

Doch dieser weitgehende Plan stieß zu Kaisers Zeiten auf den erbitterten Widerstand erzkonservativer Kräfte, die damals am langen Hebel saßen. Bis zur Novemberrevolution 1918 verhinderten Preußen und die Reichsregierung erfolgreich, dass das „rote Berlin“ durch eine große Gebiets- und Verwaltungsreform politisch und wirtschaftlich erstarkt. S

o blieb der Zweckverband ein Torso, auch wenn vereinzelte Erfolge bis heute ihre segensreiche Wirkung entfalten. Der Verband kaufte 1915 dem preußischen Staat große Forstflächen in der Berliner Umgebung ab, darunter auch Teile des Grunewalds. Die „Lunge Groß-Berlins“, wie man es damals nannte. So sicherten sich Berlin und Umland wertvolle Erholungsgebiete – und jede Menge Bauholz.

Man blieb sich gegenseitig fremd

Ansonsten blieb es bei einem weitgehend unverbindlichen Mit- und Nebeneinander. Die prosperierenden Kommunen im Süden und Westen Berlins, die wohlhabende Bürger zusätzlich mit niedrigen Steuern anlockten, hielten wenig davon, mit den Hungerleidern in Wedding, Neukölln, Lichtenberg, Pankow oder Weißensee in einen Topf geworfen zu werden.

Man blieb sich gegenseitig fremd. In Grunewald, Westend oder Friedenau war die Welt auch während des 1. Weltkriegs einigermaßen in Ordnung – die reichen Leute im Süden und Westen Berlins wollten daran auch nichts ändern. Nicht nur Frohnau lockte damit, „steuerfreie Stadt“ zu sein, und die vermögenden Städte und Gemeinden hatten Angst, durch einen Lastenausgleich zugunsten der bettelarmen Regionen überfordert zu werden.

Vor Gründung des Zweckverbands gab es immerhin den Versuch, ein „nominelles Berlin“ zu etablieren. Eine fast vergessene Initiative, die dem aufstrebenden Vorort Deutsch-Wilmersdorf zu verdanken war, das sich im Januar 1909 in Berlin-Wilmersdorf umbenennen wollte.

Zwar wurde der Antrag vom preußischen Innenminister Friedrich von Moltke abschlägig beschieden. Doch die Wilmersdorfer Stadtväter gaben nicht auf, und im November 1910 war es soweit: Deutsch-Wilmersdorf, Lichtenberg und Schöneberg, der Gutsbezirk Dahlem und 25 Dorfgemeinden in den Landkreisen Teltow und Niederbarnim, die alle innerhalb der postalischen Fünfpfennig-Zone (einheitlicher Ortsbrieftarif) lagen, stellten den Antrag, vor ihrem Namen den Zusatz „Berlin-“ führen zu dürfen.

Vororte bekennen sich zu Berlin

Nur Neukölln machte nicht mit und Charlottenburg wurde gar nicht erst gefragt, weil die Stadt seit zwei Jahrhunderten dafür bekannt war, Berlin hochnäsig zu ignorieren. Mit Unterstützung der Berliner Stadtverordnetenversammlung und der regionalen Wirtschaftsverbände ließ sich im Januar 1911 der preußische König überzeugen. Die Kabinettsorder zur Namensänderung für 29 Orte trat zeitgleich mit dem Zweckverbandsgesetz am 1. April 1912 in Kraft. Der Wilmersdorfer Stadtrat und Fabrikant Max Steinborn lobte an diesem Tag im Berliner Tageblatt das Bekenntnis zu Berlin. Doch das reale Groß-Berlin ließ auf sich warten. Erst acht Jahre später wurde das Zweckverbandsgesetz durch das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“ vom 27. April 1920 aufgehoben.

Frühere Versuche, der Millionenmetropole eine effektive und einheitliche Verwaltungsstruktur zu geben, gehen bis ins Jahr 1875 zurück. Vier Jahre nach der Reichsgründung schlug der Berliner Oberbürgermeister Arthur Hobrecht vor, mit den Städten Berlin, Charlottenburg, Spandau und Köpenick, einschließlich der Landkreise Teltow und Barnim, eine „Provinz Berlin“ zu gründen.

Der Plan wurde von allen Seiten abgelehnt. Berlins Nachbarn pochten auf ihre kommunale Eigenständigkeit, und die preußische Regierung wollte die Hauptstadtregion auf keinen Fall aus ihrer Kernprovinz Brandenburg entlassen.

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Bis 1912 gab es weitere Versuche, eine Berliner Provinzialverwaltung zu etablieren, aber ohne Erfolg. Und auch der dann 1912 gegründete Zweckverband blieb ein halbherziger Versuch, das schlimmste Durcheinander zu verhindern. Erst mit der Novemberrevolution wendete sich das Blatt.

Zu den treibenden Kräften für ein – nicht nur nominelles – Groß-Berlin gehörten in jenen Jahren der Berliner Oberbürgermeister Adolf Wermuth (parteilos), dessen Schöneberger Amtskollege Alexander Dominicus (DDP) und der preußische Ministerpräsident Paul Hirsch (SPD). Der gab seinem Unterstaatssekretär Freund weitgehend freie Hand für die Verhandlungen mit Berlin und den Umlandgemeinden.

„In Ausgaben und Schulden erstickt“

Vier Tage nach der entscheidenden Beratung aller Beteiligten im Amtszimmer Wermuths im Roten Rathaus präsentierte Freund sein weitgehend abgestimmtes Konzept am 19. März 1919 in der Vossischen Zeitung. Der sozialpolitisch und kulturell engagierte Jurist rechnete dabei mit den Versäumnissen der Vergangenheit ab.

Jetzt gehe es darum, so Freund, „auch die Gemeinden, die durch die Lähmung der Zweckverbandstätigkeit in Ausgaben und Schulden erstickt sind, von einem einheitlichen kommunalen Gebilde zu sanieren“. Groß-Berlin müsse auch eine Zahlungsgemeinschaft werden.

So kam es dann auch – mit der Bildung der Einheitsgemeinde Groß-Berlin am 1. Oktober 1920, die bis heute fortlebt. Später machte sich Freund noch um die Gründung von Groß-Hamburg verdient. 1924 starb er, sein Grab liegt auf dem Friedhof Wilmersdorf.

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