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Berlin: 18 Tote, die es nicht gab

In Nikolassee erinnert ein Denkmal an sowjetische Soldaten, die beim Aufstand vom 17. Juni 1953 erschossen wurden. Doch die Geschichte erweist sich als Legende

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Von Sandra Dassler

und Robert Ide

Die Geschichte hat Generationen bewegt. Im Westen Deutschlands fehlte sie in keiner offiziellen Rede. Im Osten wurde sie bis 1989 hinter vorgehaltener Hand erzählt, was ihre Wirkung nur verstärkte. Sie hat in Kindern den Wunsch geweckt, ebenso anständig zu handeln wie jene Soldaten der Roten Armee, die sich am 17. Juni 1953 weigerten, auf unbewaffnete deutsche Arbeiter zu schießen.

Es klang wie ein Märchen: Acht Jahre nach Kriegsende, in denen Millionen Menschen der Sowjetunion ihr Leben ließen, solidarisieren sich Mitglieder der Besatzungsarmee mit den verhassten Deutschen. Sie führen den Schießbefehl nicht aus und werden deshalb von eigenen Leuten standrechtlich erschossen. Mehr als 40 Soldaten sollen so gestorben sein, darunter 18 in Magdeburg – so lautet die Überlieferung.

In Berlin lebt die Geschichte noch. In Nikolassee steht ein Gedenkstein für die Helden. Ein kleines Schild auf dem Mittelstreifen der Potsdamer Chaussee weist auf die „Gedenkstätte 17. Juni“ hin. Der Zugang zu dem hinter Büschen verborgenen Areal ist mühselig – Halteverbot. Als der SPD-Arbeitskreis ehemaliger politischer Häftlinge im Juni 1993 einen Kranz niederlegen wollte, war eine Sondererlaubnis nötig. „Ein Streifenwagen der Polizei überwachte unsere Gedenkminute“, erinnert sich Hans-Joachim Helwig-Wilson.

Das Denkmal ist gepflegt. Ein Holzkreuz überragt beschnittene Hecken. Der Boden ist geharkt, die Blumen sind frisch.

Der Stein wurde bereits im Jahr nach dem Aufstand errichtet. Eine Privatinitiative von Berliner Arbeitern, die am Aufstand beteiligt waren und danach in den Westteil der Stadt flohen, hatte Geld dafür gesammelt. Am 29. Juni 1954 berichtete der Tagesspiegel: „An dem Gedenkstein an der Potsdamer Chaussee legten gestern Vertreter der russischen anti-kommunistischen Organisationen in Westberlin Kränze nieder. Der Gedenkstein ist zu Ehren der 18 sowjetischen Soldaten aufgestellt worden, die sich am 17. Juni 1953 weigerten, auf deutsche Arbeiter in der Sowjetzone zu schießen. Ein sowjetisches Militärgericht hatte sie zum Tode verurteilt. Gestern vor einem Jahr war das Urteil durch Erschießen vollstreckt worden.“

„Gestern vor einem Jahr“ – so genau wurde der Tag der Exekution benannt. Doch inzwischen zweifeln Historiker daran, dass diese Hinrichtung überhaupt stattgefunden hat und dass es eine Befehlsverweigerung gab. „Es gibt keinen Beweis dafür“, sagt Stefan Wolle vom Forschungsverbund SED-Staat. Wie sein Kollege Ilko-Sascha Kowalczuk von der Gauck-Behörde hat er jahrelang in russischen und deutschen Archiven geforscht. Kowalczuk, der gerade ein Buch zum 17. Juni geschrieben hat, sagt: „Es gibt sogar Indizien dafür, dass kein sowjetischer Soldat wegen des 17. Juni 1953 erschossen wurde.“

Die Forscher haben ermittelt, dass alle Überlieferungen nur einer einzigen Quelle entstammen, einem Flugblatt. Darin informiert eine russische Widerstandsorganisation namens NTS – sie selbst übersetzt das mit „Nationaler Bund des Schaffens“ – die deutschen „Freunde und Brüder“ darüber, dass am 28. Juni 1953 „im Sommerlager des 73. Schützenregiments 18 Soldaten von einem Sonderkommando standrechtlich erschossen“ wurden. Weiter heißt es: „Zu den 18 Toten gehören der Gefreite Alexander Tscherbin, der Sergeant Nikolai Tjuljakow und der Soldat Djatkowski. Die Namen der anderen sind unbekannt.“

Nach den namentlich bekannten Soldaten wurde seitdem gesucht – ohne Ergebnis. Annegret Stephan von der Magdeburger Gedenkstätte für Opfer politischer Gewalt sagt: „Wir haben die sowjetische Militärstaatsanwaltschaft und den Geheimdienst um Aufklärung gebeten. Doch es wurde nichts gefunden, und es haben sich keine Hinterbliebenen gemeldet.“ Auch die Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen fragte in Moskau nach. Im Antwortbrief der russischen Regierung heißt es zu den erschossenen Soldaten: „Dafür waren und sind in russischen Archiven keine urkundlichen Hinweise, geschweige denn Beweise, gefunden worden.“

Solche Aussagen sind umstritten. „In Moskau hat keiner Interesse an der Aufarbeitung dieser Geschichte“, sagt Alexandra Hildebrandt vom Haus am Checkpoint Charlie. Auch Kowalczuk zweifelt am Aufklärungswillen der russischen Armee. „Für die sind Befehlsverweigerer noch Verbrecher.“ Doch Beweise fehlen. Bei den Recherchen tauchten nur Briefe von sowjetischen Soldaten auf, in denen die Geschichte erwähnt wurde. „Aber kein Einziger schreibt, dass er etwas gesehen hat“, sagt Kowalczuk.

Nur ein Mann hat immer wieder behauptet, Zeuge gewesen zu sein: der sowjetische Major Ronschin. Problem: Ronschin war vor dem 17. Juni 1953 in den Westen geflohen – mit Hilfe seiner Freundin, die ihm falsche Papiere besorgt hatte. Die Freundin wurde ertappt und von einem sowjetischen Militärgericht zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt – für eine Fluchthelferin eine geringe Strafe. Ronschin tauchte ab. Seine Spur verliert sich, wahrscheinlich in Amerika.

Auch am Ort des Geschehens, in Biederitz bei Magdeburg, blieben Nachforschungen erfolglos. Zwar wurden hier vor Jahren menschliche Knochen gefunden, die können aber auch aus dem vergangenen Jahrhundert stammen. Und das 73. Schützenregiment, dem die hingerichteten Soldaten angeblich angehörten, war nach Recherchen der Forscher nie in Magdeburg stationiert.

Bleibt noch die Frage des Berliner Denkmals. Kowalczuk sagt: „Man sollte den Stein umwidmen, schließlich gab es bei den sowjetischen Besatzungstruppen viele standrechtliche Erschießungen und Selbstmorde.“ Auch Stefan Wolle plädiert für eine vorsichtige Diskussion. Er sagt: „Viele können sich von der anrührenden Geschichte nicht trennen. Für sie ist das eine Art Glaubensfrage.“

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